ZEIT ONLINE vom 23.02.2024
Körperliche Leistungsfähigkeit
Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20
Im mittleren Alter ist der Körper nicht mehr so leistungsfähig? Stimmt nicht. Was Forscher über schwindende Muskelmasse, Lifestylefehler und Training im Alter wissen.
Von Tobias Landwehr
Zum Beispiel Novak Đoković. Fast 37 Jahre ist der serbische Tennisprofi nun alt, und führt noch immer mit großem Vorsprung die Weltrangliste an. Während andere in seinem Alter mit Falten, Pfunden und dem Physiotherapeuten kämpfen, gewinnt er regelmäßig gegen 15 Jahre Jüngere. Đoković, der Ausnahmesportler. Das stimmt, wenn es um sein Tennis geht, aber das stimmt auch wieder nicht, wenn es darum geht, auch im höheren Alter noch erfolgreich zu sein.
Dieter Leyk, Sportmediziner und Leiter der Forschungsgruppe für Leistungsepidemiologie an der Sporthochschule Köln, sagt: Jeder könne sein eigener Đoković sein. Gar bis in die Fünfziger hinein könne jeder sein Leistungsniveau aus deutlich jüngeren Jahren recht stabil halten. Jeder Mid-Ager könne es mit seinem 20-jährigen Ich aufnehmen. Alter sei kein Schicksal, sondern ein Lifestylefehler.
Leyk beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Altern. Die gesellschaftlich verankerte Wahrnehmung, Menschen würden etwa ab dem 30. Lebensjahr durch das Altern an Leistungsfähigkeit einbüßen, sei falsch, findet er. "Es ist für mich dann überhaupt gar kein Thema, dass jemand auch mit 38 Jahren oder später Topleistungen bringt", sagt Leyk. Es sei bis zu einem gewissen Punkt nicht das Alter selbst, das zu schlechteren Leistungen führe, sondern bei vielen Menschen der Einstieg in den Beruf, die damit oft verbundene Bewegungsarmut sowie Beschwerden und Krankheiten, die daraus folgen. Etwas zugespitzt: Nicht die Zeit lässt einen altern, sondern der Lebenswandel.
Laut Leyk müsse man eine wichtige Unterscheidung treffen: zwischen den Äußerlichkeiten, die einen Menschen als alt erscheinen und jenen Faktoren, die ihn wirklich altern lassen. So gebe es die age passengers, also beispielsweise graue Haare oder Falten. "Die zeigen zwar eine Alterung an, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass die Leute nicht leistungsfähig sind", sagt Leyk. "Es gibt auf der anderen Seite die age drivers, also tatsächlich Faktoren, die Alterung antreiben." Das sind zum Beispiel ein ungesunder Lebensstil, Rauchen, Alkohol, mentale Faktoren oder chronische Überlastung. Wer Falten hat, ist also zwar älter, muss aber noch lange nicht gealtert sein.
Der natürliche Leistungsverlust setzt hingegen erst vergleichsweise spät im Leben ein. Für eine seiner früheren Studien hat Leyk eine Million Marathonlaufzeiten von 20- bis 80-Jährigen analysiert (Leyk et al., 2009). "Bei Männern und Frauen haben wir ein gleiches Phänomen festgestellt: Es gab keine signifikanten Leistungsverluste vor dem 50. Lebensjahr", sagt der Forscher. Erst in einem späteren Alter seien die Änderungen statistisch relevant. "Und auch da sind die Leistungseinbußen so was von gering!" Das beste Viertel der 60- bis 70-Jährigen liefe immer noch schneller als gut die Hälfte aller 20-Jährigen. "Die haben wir Silberpfeile genannt", sagt Leyk.
Auch der Franzose Geoffroy Berthelot, der als IT- und Datenwissenschaftler am Nationalen Institut für Sport, Fachwissen und Leistung in Frankreich arbeitet, hat erforscht, wie Alter und Leistungsfähigkeit zusammenhängen. Auch er sagt, dass es den gemeinhin angenommenen physischen Leistungsverlust nach den goldenen Zwanzigerjahren in der Form nicht gibt. Dafür hat er 57.000 100-Meter-Zeiten von Athleten zwischen 14 und 45 Jahren gemessen und verglichen. Das Ergebnis: In der Teenagerzeit steigt die Leistungsfähigkeit schnell und stark an, erreicht im Alter von 25 Jahren bei etwa 9,55 Metern pro Sekunde einen Höhepunkt, ehe sie dann sehr langsam absinkt. So langsam, dass sie auch mit 45 Jahren noch immer bei knapp unter 9,5 Metern pro Sekunde bleibt (Berthelot et al., 2019) Es ergibt sich ein leicht schräg abfallendes Plateau, das sich auch in ähnlichen Studienansätzen wiederfindet.
"Tatsächlich können wir dieses Plateau nicht erklären und auch nicht, warum sich dieser abnehmende Teil im Vergleich zum zunehmenden Teil so langsam entwickelt", sagt Berthelot. Wie überhaupt die Wissenschaftler beim Thema Altern noch viele Fragen und wenig Antworten haben. "Wir haben mehr als 300 Theorien über das Altern. Und eigentlich ist es ein ziemliches Durcheinander", sagt Berthelot.
Evolutionär war es gar nicht vorgesehen, dass Menschen so lange leben wie heute. "Doch die heutigen technischen Geräte und sozialen Systeme helfen uns, länger in einer besseren Verfassung zu bleiben", sagt Berthelot. Dadurch dass die moderne Gesellschaft ab dem 20. Jahrhundert den frühen Tod austrickst, hat sich ein lebenszeitlicher Leerraum von mehreren Jahrzehnten ergeben, der evolutionär wie biologisch weder durch Kindheit oder Adoleszenz noch durchs Altern definiert ist. Und den es als Mensch sinnvoll zu befüllen gilt, wenn man langsam altern wolle. Dazu brauche es aber den richtigen Lebensstil, sagt Berthelot. "Wenn man nicht raucht und nicht zu viel trinkt und einen aktiven Lebensstil verfolgt, dann bleibt der Körper auch im Alter in guter Form."
Der Kölner Sportwissenschaftler Leyk sagt jedoch, dass viele genau das eben nicht schaffen. "Wir sehen eine heftige Elimination von Bewegung in allen Lebensbereichen", sagt er. 60 Prozent der Deutschen erreichten nicht die Bewegungsempfehlungen der WHO. "Ein Großteil der Deutschen ist überall inaktiv: vom Dauersitzen in Büros über bewegungsloses Pendeln bis zum Sofa in der Freizeit", sagt Leyk. Die Effekte, die sich daraus ergeben, werden dann als Altern wahrgenommen.
Laut Leyk hängt alles davon ab, dass man ausreichend trainiert. Besonders mit zunehmendem Alter dürfe man nicht nachlassen. Und es bräuchte eine gute Umgebung, also Ärzte und Physiotherapeuten in der Nähe, um sich nach Verletzungen oder anderen Rückschlägen erholen zu können.
Letztlich sind jedoch auch Trainingsweltmeistern Grenzen gesetzt. "Die Daten, die wir haben, deuten auf ein Alter von etwa 50, 60 Jahren hin. Das ist der Zeitpunkt, an dem Sarkopenie, also der Verlust von Muskelmasse, vor allem Muskelfasern, auftritt", sagt der Franzose Berthelot. Ab dann nehmen die Zellschäden und die Menge biologischer Abfälle, die Zellfunktionen blockieren, zu. Danach sei es schwierig, Muskelmasse zu halten. Selbst bei einem aktiven Lebensstil oder bei einer sehr gesunden Lebensweise. "Selbst wenn man – im Alter sehr wichtig – viel Eiweiß isst, um weiterhin Muskelmasse aufzubauen; selbst wenn man das alles tut, verliert man immer noch Muskelmasse", sagt Berthelot.
Trotz dieses Knicks in der Leistungsfähigkeit haben Sport und Bewegung einen großen Effekt. Berthelot verglich die Lebenserwartung von olympischen Athleten aus aller Welt mit der der allgemeinen Bevölkerung (Berthelot, 2019). Dabei stellte er fest, dass die Lebenserwartung der Sportlerinnen deutlich höher ist. "Es sind etwa sieben Jahre", sagt Berthelot. "Wir glauben, dass es in der Kultur der Athleten liegt, in einem höheren Alter weiter Sport zu treiben und sich einen gesunden Lebensstil zu bewahren." Das stehe im Gegensatz zu den meisten Nichtsportlern.
Wer langsam altern wolle, brauche eine hohe Zahl gesunder Lebensjahre, sagt Dieter Leyk. Chronische Erkrankungen aber, wie Diabetes-Typ-2 etwa, das lange als Altersdiabetes galt, inzwischen wegen falscher Ernährung und wenig Bewegung auch bei immer mehr Menschen unter 45 Jahren vorkommt, senken diese aber auf null, denn sie bleiben ein Leben lang. Leyk sagt: "Der größte und stärkste Anti-Aging-Kandidat ist sicherlich Sport und Bewegung. Es ist fast nie zu spät, damit anzufangen."