Harald Martenstein
Über den Ruf der Leere und andere Dinge, die wir nicht verstehen.
ZEITmagazin Nr. 34/2024 7. August 2024, 16:52 Uhr aktualisiert am 12. August 2024, 11:31 Uhr
Ich war auf der Autobahn unterwegs, bei beginnender Dämmerung, Richtung Uckermark. Meine Geschwindigkeit lag zwischen 120 und 130 Kilometern in der Stunde. Die A 11 war leer, weit und breit kein anderes Fahrzeug. Mit einem Mal überkam mich der Drang, das Steuer herumzureißen und den Wagen in die Leitplanke zu lenken.
Dieser Drang war ziemlich stark. Ich hatte keine Ahnung, wo er herkam. Nicht dass ich eine Stimme im Kopf gehört hätte oder dergleichen. Ich bin, soweit ich weiß, auch nicht suizidgefährdet. Trotzdem war da plötzlich dieser Wunsch, zu verschwinden, sich im Nichts aufzulösen wie ein Stück Zucker im Kaffee, weg zu sein, ein Wunsch, für den ich in diesem Moment keinen konkreten Grund hätte nennen können. Der Wunsch, aus der Welt zu verschwinden, war einfach da und zog an mir wie eine Strömung im Meer, die den Schwimmer gepackt hat. Das war alles.
Auf der einen Seite gab es in mir also diesen Drang – oder war es ein Wunsch? Auf der anderen Seite wuchs ein Gefühl der Panik. Denn es bedurfte ja tatsächlich nur des Bruchteils einer Sekunde, um das Steuer nach links herumzureißen und aus dem Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Eine einzige Zehntelsekunde nur musste der Drang stärker sein als der Rest meines Ich, der begonnen hatte, alle möglichen rationalen Gründe aufzuzählen. Es war zum Beispiel keineswegs sicher, dass ein Unfall mir sofort und für immer das Licht ausgeknipst hätte, dazu fuhr ich wahrscheinlich nicht schnell genug. Die Alternativen waren zum Beispiel ein minutenlanges, qualvolles Ende im brennenden Autowrack oder ein Dasein als Gelähmter.
Während ich mich fest ans Lenkrad klammerte, fiel mir ein, dass ich schon einmal das Gleiche erlebt hatte. Es musste lange her sein, wahrscheinlich war ich in meinen Vierzigern. Der Wunsch überfiel mich damals mit solcher Kraft, dass ich auf einem Parkplatz anhielt und aus dem Auto sprang, ja, regelrecht sprang. Ich erinnerte mich, umhergelaufen zu sein, wahrscheinlich hatte ich auch geraucht, um mich zu beruhigen. Als ich auf den Tachometer schaute, bemerkte ich, dass er inzwischen 150 zeigte, normalerweise fahre ich nie so schnell. Das muss ja wohl zu diesem Zweck reichen, dachte ich, oder irgendetwas in mir dachte es, eine kurze Handbewegung reicht, tu’s doch einfach. Los, mach es!
Als ich das Radio anschaltete, wurde der Drang schwächer. Als ich von der leeren Autobahn auf die Landstraße abbog, hatte er sich in eine beunruhigende Erinnerung verwandelt.
Zu Hause googelte ich dieses Phänomen, es scheint gar nicht so selten zu sein. Es wird call of the void genannt, Ruf der Leere, eine andere Bezeichnung heißt high place phenomenon. Der gleiche Drang taucht nämlich auch manchmal auf, wenn man an einem Abgrund oder auf einer Brücke steht, nach unten blickt und die Versuchung spürt, hinunterzuspringen. Es gibt Studien dazu. Der Ruf der Leere läuft demnach vermutlich darauf hinaus, dass unser Gehirn in gewissen Momenten falsch verdrahtet ist und eine Angstaufwallung in diesen Drang verwandelt, wieso auch immer. Ich tippe auf fehlgeleiteten Selbstschutz: Entkomme der Angst, indem du es einfach tust. Der Ruf der Leere habe in vielen Fällen jedenfalls mehr mit der Angst vor dem Sterben zu tun als mit einem Todeswunsch. Eine komplizierte Sache. Letztlich bleibt die Ursache unklar.
Es war so verdammt stark. Bestimmt gab es Menschen, die diesem Drang erlegen sind, einfach so, und ihre Liebsten ratlos zurückließen. Oder ruft da wirklich jemand, aus einer anderen Welt, wo sie schon auf uns warten? Ich weiß es nicht.
Kommentar von:
madamenui
vor 7 Stunden
Kenne ich und gehört für mich zu den seltsamsten Erfahrungen. Ohne Internet hätte ich gedacht, ich würde verrückt - dabei ist das Gefühl ziemlich verbreitet. Aber weils so schwer einzuordnen ist, erzählt kaum wer davon.
Der gleiche Drang taucht nämlich bei mir auch auf, wenn man an einem Abgrund oder auf einer Brücke steht, nach unten blickt und die Versuchung spürt, hinunterzuspringen. Genauso zieht mich das Wasser an, wenn ich auf einem schmalen Bootssteg gehe.
Hübi