Starke Leistung
Es ist nie zu spät, um fitter und beweglicher zu werden – dafür muss man noch nicht einmal ständig joggen gehen. Was in welchem Alter hilft
Von Urs Willmann
Aus der ZEIT Nr. 33/2024
31. Juli 2024
Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 31/2024.
Langsamer altern, seltener krank werden, länger schnell denken – das wollen alle. Die gute Nachricht: Es ist möglich, in jedem Alter. Die schlechte: Es schmerzt. Denn die Forschung hat die Skelettmuskulatur als zentrales Organ körperlicher und geistiger Gesundheit entdeckt. Selbst Hochbetagten empfehlen Sportärzte zur Ertüchtigung nun nicht mehr nur Spaziergänge oder Wandern, sondern eher Übungen mit Hanteln oder an Kraftmaschinen zum Muskelaufbau.
"Man sollte an der Intensität schrauben: mehr Gewicht, wenige Wiederholungen", sagt Martin Halle. Wenn es um körperlichen Aufbau geht, gibt es für den Kardiologen und Sportmediziner von der TU München keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Twen, Mittvierziger und Senior: "Man kann jeden zur Goldmedaille bringen."
Der Feind: Muskelschwund
Der Medizinprofessor meint mit seiner Metapher: Zu persönlichen sportlichen Triumphen ist jeder fähig – wenn er was dafür tut. Das gilt sogar für den 50-Jährigen, der ein ungesundes Leben samt Herzinfarkt hinter sich hat. Moderates Ausdauertraining ist gut. Darüber hinaus aber sollten Übungen kurz und knackig sein. Intervalltraining sogar für Malade, empfiehlt Halle. Andernfalls nagt ein Feind alternder Menschen an ihren Körpern: der Muskelschwund.
Wie aber sieht optimales Aufbautraining für Kraft und Ausdauer aus? Was ist in welchem Alter möglich? Bei jedem Individuum tragen viele Faktoren unterschiedlich zur Leistungssteigerung bei. Um die Fragen dennoch halbwegs systematisch zu erläutern, kann man die sporttreibende Menschheit grob in fünf Alterskategorien einteilen. Laut Martin Halle gilt: "Jedes Alter hat Entwicklungspotenzial." Nur die Voraussetzungen sind in jeder Lebensphase andere.
1. Kindheit und Jugend, bis 20
In dieser Zeit wächst der Körper von allein. Zentrale Elemente der Leistungssteigerung sind die Satellitenzellen, die im jungen Muskel besonders aktiv und zahlreich vorhanden sind. Dabei handelt es sich um Stammzellen in den Skelettmuskeln. Sie helfen bei Reparatur und Wachstum, indem sie sich teilen und zu neuen Muskelfasern ausdifferenzieren. "Oder sie fusionieren mit bestehenden Muskelfasern, um deren Querschnitt zu vergrößern", sagt Christine Joisten von der Deutschen Sporthochschule Köln.
Der Kinderkörper ist noch nicht spezialisiert, die Muskelfasertypen I und II sind recht gleichmäßig verteilt. Zu Typ I gehören die langsamen Muskeln (später wichtig für Ausdauersportler). Typ II sind schnell kontrahierende Muskeln (wie Sprinter sie ausgeprägt besitzen). Erst mit der Pubertät beginnt die wesentliche Differenzierung. Vor allem die Typ-II-Fasern wachsen nun verstärkt unter dem Einfluss von Training und hormonellen Veränderungen – zentral beteiligt, vor allem bei Jungs: Testosteron.
"Bis 20 funktioniert alles tippitoppi", sagt Martin Halle. Spezialisten wie er raten dennoch davon ab, den Muskelaufbau schon in der Jugend zu sehr zu forcieren. "Die Wachstumsfugen sind da meist noch nicht geschlossen", sagt die Medizinerin Joisten. Es gelte, Überbeanspruchungen zu vermeiden – und trotzdem mit körperlichen Aktivitäten die Beweglichkeit, Kondition und Kraft zu verbessern. Der Sportbiologe Henning Wackerhage von der TU München rät auch in diesem Alter zu leistungsorientiertem Sport. Und vor allem zu Krafttraining. Denn an frühe sportliche Prägung erinnert sich der Körper noch viele Jahre später. "Wer das schon gemacht hat und im Krafttraining einen Erfolg erzielt hat, dem hilft es später, wieder damit zu beginnen oder dabeizubleiben", sagt Wackerhage. "Warum nicht mit Schulklassen ins Fitnessstudio?"
2. Erwachsene, 20 bis 35
Die Zeit der größten Leistungsfähigkeit: Die Besten fast aller Sportarten finden sich in dieser Alterskategorie. "Da ist der Mensch im Saft", sagt Christine Joisten. Krafttraining und (in geringerem Maß) Ausdauertraining fördern die Aktivierung von Satellitenzellen. Muskelreparatur und -aufbau funktionieren besonders gut. Henning Wackerhage empfiehlt, schon in dieser Zeit mit Blick aufs höhere Alter "im Alltag die Treppen mitzunehmen". Jede Minute zähle. Dinge, die Kraft brauchen und daher Muskeln aufbauen, sollte man "wie Zähneputzen als Gesundheitshygiene in den Tag integrieren".
Doch was ist die Voraussetzung dafür, dass die 656 Muskeln des Körpers überhaupt wachsen? Von allein tun sie es ungern. Man muss sich die Muskulatur als faulen Hund vorstellen, der sich erst rührt, wenn er gepiesackt wird. Es braucht sogenannte überschwellige Reize. Sie kommen durch mechanische Belastung zustande – indem man etwa Übungen macht, die 80 Prozent der maximalen Kraft beanspruchen. Oder indem man die Skelettmuskulatur mit Training überrascht, das vernachlässigte Muskeln beansprucht. Wer erstmals in seinem Leben gezielt Ausfallschritte macht, dem erzählt am Tag danach der Muskelkater, welche Partien er besonders lange unterbeschäftigt gelassen hat.
Wird der Muskel nicht gefordert, langweilt er sich
Ohne Belastung fehlt der Grund, Anpassungsleistungen zu erbringen und aus Proteinen Muskulatur zu bauen. "Wir setzen einen Reiz, und der Körper lernt, sich damit auseinanderzusetzen", sagt Christine Joisten. Der Stress etwa von Liegestützen signalisiert ihm: Da und dort brauchst du mehr Kraft! Wird der Muskel nicht gefordert, "langweilt er sich zu Tode", so die Medizinerin.
Die Reaktionen auf die Reize zeigen sich auf zellulärer Ebene. "Wir müssen die Gene ansprechen", sagt Halle. Das geschieht, indem wir durch die Beanspruchung "mehr Spannung an der Muskelmembran" erzeugen. Sie sorgt für erhöhten Informationsfluss zum Zellkern, worauf dort die Gene den Bauplan für neue Eiweiße herausrücken – und eine Abschrift geht an die Proteinfabriken im Zellplasma.
Die machen sich nach dem Training etwas verzögert an die Arbeit. Mittels Proteinsynthese und des Einbaus der neuen Eiweiße bringen sie den Strukturaufbau voran. Ruhephasen sind nun besonders wichtig. Denn die Muskeln wachsen nicht beim Training, sondern wenn sie sich erholen. Vereinfacht gesagt: Wir müssen die Muckis plattmachen, damit sie nach einer Erholungsphase stärker und erholt zurückkommen können – Trainingseffekt genannt.
3. Altersanfang, 35 bis 55
Jetzt wird es ernst. In dieser Lebensphase, vor allem ab 50, geht die Muskelmasse dramatisch zurück – sofern wir nicht gegensteuern. Die Anzahl und Aktivität der Satellitenzellen nimmt ab, das Reparieren der Muskelfasern dauert länger, das Wachstum verlangsamt sich.
Bemerkenswert ist allerdings nur der Verlust der "schnellen" Typ-II-Fasern; aus diesem Grund lassen vor allem Kraft und Schnelligkeit nach, ein Sprint über hundert Meter zieht sich plötzlich. Die für Ausdauer zuständigen Typ-I-Fasern bleiben in diesem Alter hingegen relativ stabil. Da die Kondition noch nicht so sehr vom Verfall betroffen ist, beginnt im Alter von 40 bei vielen die Zeit der Marathons. Es ist kein Zufall, wenn Midlifecrisis und 42,195 Kilometer biografisch zusammenfallen – Joschka Fischer etwa schaffte die historische Distanz mit 50.
Krafttraining auch für Marathonläufer
Vor allem dank des Trainings tut ein Läufer viel für sein Herz-Kreislauf-System und gegen Übergewicht – aber wenig gegen den Abbau der Typ-II-Fasern. Auch für Marathonläufer wird von diesem Alter an Krafttraining wichtig gegen die Sarkopenie: den Verlust an Muskelmasse und -kraft. Da die Proteinsynthese allerdings ins Stocken gerät, dauern nicht nur die Regenerationsprozesse länger, auch der Muskelaufbau benötigt mehr Zeit. Das kann das Warten auf den Trainingseffekt in die Länge ziehen.
Wer in dieser Phase ungeduldig wird, riskiert Nebenwirkungen: Zu schnell mit zu hohen Gewichten zu arbeiten, erhöht die Verletzungsgefahr – der Körper ist nun einmal im Altern begriffen, Knorpel, Sehnen und Knochen beginnen zu bröseln. Genauso hält der Ausdauersportler vernünftigerweise Maß: Zu viel Training erhöht die Gefahr, dass das Immunsystem "zeitweise in den Keller geht", sagt Halle.
Dennoch rät der Sportmediziner keinem, sich auf leichtes Joggen, Schwimmen und Radfahren zu beschränken. Wie dem Spitzensportler auch, empfiehlt er "kurze, knackige Einheiten", sogenannte Exercise-Snacks. Kniebeugen, Seilhüpfen, Ausfallschritte, Liegestütze oder Klimmzüge zählen dazu. Wer an einer Kraftstation mehr als zwölf Wiederholungen schafft, sollte den Widerstand erhöhen. Erstaunliche Wirkung zeitigen aber auch Planks: Wer sich regelmäßig im Unterarmstütz hält, trainiert mit seinem eigenen Gewicht in einem Aufguss weite Teile des Körpers, insbesondere die Rumpfmuskulatur, die wiederum Becken, Rücken und Schulterpartie stützt.
Die Effekte von Intensivtraining sind deutlich
"30 Minuten Wandern ist zu wenig!" – sogar Herzinfarkt-Patienten rät der Münchner Professor nicht zur Schonung. Für seine herzinsuffiziente Klientel hat er High-Intensity-Trainings zusammengestellt, "anspruchsvoll wie beim Freizeitsportler". Am Anfang, erzählt Martin Halle, bekam er von Kollegen zu hören: "Seid ihr verrückt?" Aber längst hätten sie nachweisen können, dass die Effekte von Intensivtraining – immer relativ zum jeweiligen Leistungsvermögen – deutlich messbar seien. Es gehe nicht darum, Herzmedikamente zu ersetzen, sondern "additiv" einzuwirken: "Der Sport ist einfach das richtige Mittel, um das Herz zu entlasten und Alterungsprozesse zu reduzieren."
Daher versucht Halle sogar extreme Sportmuffel unter seinen Patienten in Bewegung zu bringen. Damit diese nicht gleich frustriert aufgeben, fängt er mit einer Minute an – am Tag. Eine Woche lang. Erst danach steigert er die Dosis, sehr langsam. Denn 30 Minuten Nordic Walking seien bei massivem Übergewicht reine Überforderung. "Man muss diese Leute ans Training heranführen", sagt Halle. Am besten, indem man kleine Trainingseinheiten in den Alltag integriert. Wandsitzen etwa. Wer sich mit rechtem Winkel in den Knien und rechtem Winkel in der Hüfte ohne Stuhl an die Wand "setzt", trainiert mit einer einfachen Übung, für die er kein Fitnessstudio braucht, eine erstaunlich große Muskelgruppe: den Quadrizeps an der Vorderseite der Oberschenkel, die Gesäßmuskeln, die Waden, die Rumpfmuskulatur. Gleichzeitig kräftigt die Übung Rücken und Schultern und stabilisiert die Knie durch die Aktivierung der Muskeln. Außerdem hält Halle sie für "eine der besten Maßnahmen, den Blutdruck zu senken". Für Einsteiger und Ältere gibt es eine Lightversion: "Auch 120-Grad-Sitzen ist für den Anfang gut."
4. Gegen den Zerfall, 55 bis 75
Die Fachfrau sagt: "Der Proteinstoffwechsel wird zunehmend katabol." Was Christine Joisten von der Sporthochschule Köln damit meint, ist verheerend konkret: Der Muskelapparat ist "auf Abbau ausgelegt". Alle Prozesse, die vorher wie ein Jungbrunnen wirken – "Zellteilung" oder "Differenzierung von Satellitenzellen" –, finden im betagten Körper nur noch reduziert statt. Nun geht es existenziell um den Erhalt von Kraft und Funktion. Denn Sarkopenie bedeutet langfristig Lebensgefahr: Ohne die schnelle Muskulatur reagiert der alternde Köper langsam; es drohen Unbeweglichkeit und Stürze.
Im Vorteil sind jetzt die Responder – Menschen, denen schon nach wenigen Trainingseinheiten das T-Shirt spannt. Auf Krafttraining reagieren sie unmittelbar mit Muskelzuwachs. Es gibt jedoch auch Non-Responder. Sie bringen es "nie und nimmer dazu, Muskeln wie Schwarzenegger aufzubauen", sagt Henning Wackerhage von der TU München. Das "Non" ist allerdings ein Mythos. Non-Responder müssen zwar länger auf Muskelpakete warten, auf sportliche Betätigung reagiert jedoch jeder.
Die Muskulatur ist zentral für die Gesundheitsvorsorge
Das Tempo des Aufbaus schleppend, die Erholungsphasen länger – immerhin bleibt der Mechanismus gleich: Reize sorgen für Muskelaufbau. Und die Effekte, die das Krafttraining zeigt, gehen weit darüber hinaus. Spätestens seit die dänische Forscherin Bente Pedersen 2007 im Blut trainierender Probanden erhöhte Mengen von Interleukin-6 entdeckte, beurteilen Mediziner die Muskulatur als ein Zentralorgan der Gesundheitsvorsorge. Normalerweise produzieren Immunzellen Interleukine – die sich im Körper etwa gegen Entzündungen engagieren oder den Stoffwechsel ankurbeln. In der Studie der Universität Kopenhagen stellte sich jedoch heraus, dass es die Muskelzellen waren, die unter Belastung Interleukin-6 herstellten. Pedersen nannte sie fortan Myokine – hergeleitet von den griechischen Wörtern mys (Muskel) und kinema (Bewegung).
Mittlerweile kennt man Hunderte Myokine, die als Botenstoffe die Muskulatur mit den anderen Organen des Körpers kommunizieren lassen. Die beanspruchten Muckis sorgen damit für eine gesunde Aktivität in Fettgeweben, Knochen, Bauchspeicheldrüse, Darm, Gehirn und Leber.
Gegen Rheuma, gegen Diabetes, gegen Demenz
Da sie nicht nur als Kraftwerk, sondern auch als Stoffwechselorgan arbeitet, schützt eine trainierte Skelettmuskulatur vermutlich das Herz, sie hilft gegen Rheuma, im Kampf gegen Tumoren oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes; sie beugt Demenz und Osteoporose vor.
Der kontrahierende Bizeps als Apotheke: Damit wird Krafttraining nicht nur zum Rezept gegen den Muskelschwund. Vielmehr bringen wir, wenn wir uns zwei- oder dreimal pro Woche eine Stunde lang mit Gewichten abplagen, wenn wir Treppen steigen, statt Fahrstuhl zu fahren, oder wenn wir "den Sprint zur Straßenbahn als kurzes High-Intensity-Ereignis in den Alltag einbauen", wie es die Medizinerin Joisten empfiehlt, unsere größte und vielfältigste Drüse in Schuss. Und die kann dafür sorgen, dass wir einigermaßen gesund in die nächste Phase eintreten, ins hohe Alter.
5. Tanzend in die letzte Phase, Ü75
"Wer jetzt noch Sport macht, ist mit einer besonderen Gesundheit gesegnet", sagt Joisten. Weil Musik motiviert, empfiehlt sie den "Kontaktsport Tanzen". Zahlreiche Studien hätten gezeigt: Wer sich auch mit 80 Muskulatur und Koordinationsfähigkeit erhält, nimmt mehr am Leben teil – und verschiebt nicht nur die Pflegebedürftigkeit auf später, sondern auch das eigene Ende. Sogar im hohen Alter von 90, sagt ihr Kollege Wackerhage, gehe es nicht in erster Linie um ein wenig Bewegung, sondern "um Schnellkraft". Eine dänische Studie mit 400 Rentnern hat kürzlich ergeben: Nur mit anspruchsvollem Muskeltraining bleibt die Muskelmasse, die einen mobil hält, über Jahre erhalten. Wer moderat trainierte, etwa mit Gummibändern, büßte mittelfristig an Muskelmasse ein. Und erst recht, wer gar nicht trainierte.
"Je älter man ist, desto mehr Krafttraining braucht man", sagt Martin Halle. Zumal die körperliche Tortur gleichzeitig die Knochen stärkt. Die neu gewonnene Kraft und Koordination sorgen dafür, dass man sich sicherer auf den Beinen hält – und eher unbeschadet aufsteht, wenn man trotz allem stürzt.