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ZEIT ONLINE: Sie war der Segen meines Lebens

Das Leben ist eine bunte Kiste!

ZEIT ONLINE: Sie war der Segen meines Lebens

Beitragvon Hübi » 12.03.2024, 15:11

Tod

Sie war der Segen meines Lebens

Der Philosoph Wilhelm Schmid hat seine Frau verloren. Hier schreibt er, wie man den Tod eines geliebten Menschen überlebt.
Ein Gastbeitrag von Wilhelm Schmid
Aktualisiert am 10. März 2024, 20:38 Uhr

Gibt es menschliche Konstanten? Also Dinge im menschlichen Leben, die immer gleich bleiben? Vermutlich dies: dass sich die meisten Menschen viel Glück im Leben und in der Liebe wünschen. Unglücklicherweise hält das Leben aber auch andere Konstanten bereit, etwa eine zeitliche Grenze. Insbesondere für Liebende ist das unendlich schmerzlich. Da ist kein Trost in der grenzenlosen Leere, die der Verlust des geliebten Menschen hinterlässt. Das Leben steht still. Alles ist nur noch Vergangenheit. Eine Zukunft ist uninteressant.

So erging es auch mir, als meine Frau nach langer Krebserkrankung starb, immerhin zu Hause, umgeben von den Kindern und mir, nach fast 40 gemeinsamen Jahren, erst 59 Jahre alt.

Was geschieht im Moment des Todes? Das ist absolut rätselhaft. Der Tod ist ein magischer Moment, unwirklich mächtig, zutiefst erschütternd. Was empfindet der Mensch, der stirbt? Bekam meine Frau noch mit, wie sehr wir weinten, als ihre Augen erloschen?

Aus der Binnensicht des Menschen, der den Tod erfährt, fühlt sich dieser äußerste Moment womöglich ganz anders an als für die Zurückbleibenden. Er könnte der Erfahrung ähneln, nach der Liebende sich sehnen und die sie in manchen Momenten auch erlangen: eine energetische Verschmelzung, ein göttliches Erlebnis, von alters her Unio mystica genannt. Der "kleine Tod" der Liebesekstase könnte eine Vorahnung des großen Aktes sein, der der Tod selbst ist. Der gewaltigste Moment des Lebens mit einem Hinausströmen des Ich aus sich, einer rauschhaften Auflösung des Lebens in dieser Gestalt.

Und was kommt danach? Wohin entschwindet der Mensch? Welche Beziehung zu ihm ist noch möglich? Kann er wirklich tot sein? Diese Fragen beschäftigen mich ohne Unterlass.

Unser Leben spielt sich in Phasen ab. Immer. Nur jetzt ist es anders. Dem Trauernden scheint: Für immer wird das Leben von Leid erfüllt sein. Alles ist trostlos. Es hat keinen Sinn weiterzuleben, und umso weniger, je inniger die Beziehung zum verstorbenen Menschen war.

Und doch sind auch jetzt Phasen zu durchlaufen, selbst wenn es Liebe war, die fortdauert und keine bloße Phase ist. Über Phasen im Umgang mit Sterben und Tod wissen wir von Elisabeth Kübler-Ross (Interviews mit Sterbenden, 1969) und Verena Kast (Trauern – Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, 1982). Das persönliche Erleben aber hat seine eigene Gangart. Phasen schälen sich erst allmählich aus dem Nebel heraus. Auf eine klare Abfolge ist kein Verlass.

1. Die Verzweiflung: Fassungslos stehe ich am Grab meiner Frau und kann nur bitterlich weinen. Der Mensch, mit dem ich gemeinsam lebte, ist nicht mehr da. Es kann unmöglich wahr sein, das ist mein einziger Gedanke. Es ist, als wären mir alle Organe entrissen worden. Wie soll ich das überleben? Der Platz neben mir ist grausam leer. Gähnende Leere zu Hause in allen Räumen. Abgrundtief die Leere der Welt.

Kein Zusammensein mit anderen kann die Einsamkeit mildern. Alles, was geschieht, ist völlig egal. Alle großen Krisen werden nichtig. Nichts macht Freude.

Es ist ein Leben von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. "Du sollst die Pflege des Körpers nicht vernachlässigen", sagt eine Stimme in mir. "Er kann der Seele zur Seite stehen." Eine Suppe wenigstens am Tag, auch wenn da kein Appetit ist. Viel trinken, nur keinen Alkohol, der schon bald zur Gewohnheit werden würde. Keine Psychopharmaka, die in kurzer Zeit abhängig machen könnten. Nur einmal täglich zur Stärkung Ferrum phosphoricum, eine Empfehlung des homöopathischen Hausarztes. Viel gehen, viele Kilometer, die Bewegung tut gut.

Es ist eine gefährliche Zeit. Die höhere Sterblichkeit hinterbliebener Partner in dieser Zeit ist statistisch belegt. Das Phänomen des gebrochenen Herzens gibt es wirklich.

2. Das Hadern: Was vor dem Tod immer wieder aufflammte, die Wut auf das Leben, das eine solche Zumutung mit sich bringt, die Wut auf alle, die das Verhängnis hätten aufhalten können, ist verflogen. Keine Wut mehr, nur ein Hadern mit allem, was schiefgelaufen ist und was ich selbst versäumt habe. Der Speiseröhrenkrebs, an dem meine Frau starb, wurde zu spät erkannt, warum? Die Erkrankung wäre vermeidbar gewesen, hätten wir frühzeitig gewusst, dass Sodbrennen nicht harmlos ist.

Jeder Regenbogen wird zum Zeichen, dass meine Frau bei mir ist

So groß wie die Liebe ist jetzt die Traurigkeit, aber kann es auch nachgetragene Liebe sein? Die vielen schönen Blumen auf dem Grab, warum habe ich meiner Frau nicht viel häufiger Blumen geschenkt? Sie hatte immer ein offenes Ohr für mich, ich auch für sie? Die Kinder und Freunde aber mögen es nicht, wenn ich hadere. Ausgiebig zu hadern, scheint mir dennoch der richtige Weg.

3. Die Gespräche: Es ist gut gemeint: "Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst!" Sicher ist: Ich werde nicht anrufen. Weil die Kraft dafür fehlt. Weil es möglich ist, dass es bei einem Anruf "im Moment leider nicht passt". Besser, die Hilfe wird ohne weitere Umstände realisiert: "Mittags steht eine Suppe vor deiner Tür." Oder: "Ich komme morgen Abend zu dir." Darüber bin ich dann doch froh. Denn das habe ich gelernt bei meiner zeitweiligen Nebentätigkeit in einem Krankenhaus, wo ich mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen sprach: Bloß nicht damit allein bleiben! Nicht sich verschließen!

Vor allem mit den Nächsten und Liebsten lange Gespräche zu führen, tut unglaublich gut. Ich kann mir "alles von der Seele reden", was mich bewegt, und mit anderen das Schwere teilen, sodass es leichter wird. Meine Frau hat Freundschaften hingebungsvoll gepflegt, ich weniger. Jetzt kommt es mir zugute. Mit dem Blick derer, die sie gut kannten, meine ich sie nun besser zu verstehen als je zuvor.

4. Die Gewöhnung: Was wiederholt auftritt, sorgt unweigerlich für eine Gewöhnung. Der Platz neben mir bleibt leer, jeden Morgen erschreckt es mich von Neuem. Die Situation verliert ihre Fremdheit und wird ein wenig vertraut. Zugleich will ich mich immerzu mit meiner Frau befassen. Ich schaue Fotos von ihr an, lese unsere Briefe und was sie mir sonst so geschrieben hat, erstelle eine Übersicht von Jahr zu Jahr, was wir alles gemeinsam unternommen haben. Es sind wehmütige Erinnerungen, aber eine "Rekonsolidierung" findet statt, wie Psychologen das nennen. Ich spüre nach wie vor unsere große seelische und geistige Verbundenheit, lediglich die körperliche Berührung fehlt schmerzlich, neben mir ist nur Luft.

Sexuelle Bedürfnisse erwachen und drängen nach intimer Nähe mit anderen, beinahe egal mit wem. Ein Freund, der früher als ich die gleiche Situation durchlebte, kennt das, mit ihm rede ich darüber. Es ist das Bedürfnis, zu leben und getröstet zu werden. Aber es ist nicht ratsam, aus der Not heraus eine Bindung einzugehen, für die es sonst keine Gründe gibt. Schwere Enttäuschung könnte die Folge sein.

5. Die Magie: Jedes sonderbare Geräusch, jede auffällige Zahlenkombination, jeder Regenbogen wird zum Zeichen, dass meine Frau bei mir ist. Reihenweise erlebe ich seit ihrem Tod Situationen, die magisch gedeutet werden können. Sie bestärken das Gefühl, dass wir weiterhin zusammen sind. Etwa dieses Ereignis am nächtlichen Himmel auf Teneriffa, wohin ich mit meiner Frau im Herzen geflogen war. Ein grün glühender Meteorit ging direkt vor meinen Augen über dem Meer nieder. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Dass meine Frau einen Meteoriten lenken kann, glaube ich nicht. Doch kann ich mir vorstellen, dass sie es war, die mich dazu bewog, mich in diesem Moment an diese Stelle zu setzen. Und war das helle Türkisgrün ein Zufall? Es war ihre Lieblingsfarbe.

6. Die Dankbarkeit: Das andere Leben gewinnt Konturen. Mein erfahrener Freund, den ich frühzeitig fragte, wie ich den Tod meiner Frau überleben kann, hatte mir geraten: "Du brauchst schöne Projekte." Also legte ich mich auf einige fest: Für meine Kinder da zu sein. Mehr als je zuvor mit Freunden und Freundinnen in Kontakt zu bleiben. Mich mit noch mehr Verve meiner Arbeit zu widmen. Viele Reisen zu unternehmen, die ich teils noch mit meiner Frau geplant hatte. Nicht mehr den ungelebten Jahren mit ihr nachzutrauern, sondern dankbar zu sein für die vielen gelebten Jahre.

Die schönen Erinnerungen an sie werden mit Macht wieder wach, als sich der Todestag zum ersten Mal jährt. Der ganze Schmerz ist wieder da. Fliehen? Lieber noch einmal alles durchleben. Das Café wieder aufsuchen, das wir gemeinsam frequentierten. Die Bilder anschauen. Sie war der Segen meines Lebens. Die Tränen fließen wieder, die eine Weile ausgeblieben waren. In der Zeit danach bemerke ich den Impuls, die Schultern wieder aufzurichten, die lange eingesunken waren.

Ich fühle mich umhüllt und erfüllt von der Energie meiner Frau

7. Die Diesseitigkeit: Aufstehen, das Bad aufsuchen, Frühstück zubereiten – das Leben in seiner banalen Diesseitigkeit macht sich erneut breit. Alles geht sisyphusmäßig seinen Gang, jeden Tag von vorn. Trügerische Ewigkeitsgewissheit. Das alltägliche Leben überbrückt mit seiner Oberfläche den Abgrund, den der Tod aufgerissen hat. Leichtigkeit wird wieder möglich und ein unbeschwerter Umgang mit anderen. Ich fühle mich umhüllt und erfüllt von der Energie meiner Frau und wünsche mir, dass sich das nie verliert.

Die Wolke, die ich spüre und vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe, ist weiterhin da, hat aber die Konturen meiner Frau verloren. Sie ragt bis in den Himmel empor und changiert zwischen einem warmen Gelbbraunrot und einem hauchdünnen weißlichen Nebel. Die Möglichkeit einer Reinkarnation nehme ich ernst. Keiner noch so kleinen Fliege tue ich etwas zuleide. Ich scheuche sie auch nicht weg, wenn sie sich auf meinen Handrücken setzt. Es könnte die Zärtlichkeit meiner Frau sein. Nur Motten jage ich weiterhin. Meine Frau, die sie hasste, kann unmöglich eine Motte sein.

8. Die Heiterkeit: Habe ich nun "Trauerarbeit" geleistet? Ich mochte dieses Wort noch nie. Es ist keine Arbeit, traurig zu sein, es ist ein Teil des Menschseins. Manche wollen mit dem Tod rasch "fertig werden", ich nicht. Auch den Toten endlich "gehen zu lassen", wie dies oft gefordert wird, ist wohl eher ein Ausdruck dafür, selbst von ihm weggehen zu wollen, um die Unruhe, die von ihm ausgeht, nicht länger aushalten zu müssen.

Mit der Bekundung, froh darüber zu sein, dass er oder sie "endlich erlöst" sei, könnte auch die eigene Erlösung von der Irritation durch den Tod gemeint sein. Anstelle der Trauer ist mir das Traurigsein schon vom Wort her lieber. Zwar kommt und geht die Wehmut in Wellen, aber die Wellentäler dehnen sich aus. Über alle Traurigkeit hinaus ist nun Heiterkeit das Gefühl – und der Gedanke, mit der Endlichkeit versöhnt zu sein und sich in einer Unendlichkeit aufgehoben zu wissen.

Ich stehe nicht mehr nur am Grab, sondern beginne es zu pflegen. Jede Woche bin ich dort und mache einen kleinen Garten daraus, bringe auch Pflanzen aus dem vormaligen Garten meiner Frau hierher. Es wird einmal unser beider ewiges Bett sein, wie wir es uns wünschten. Meine eigenen sterblichen Überreste werden an ihrer Seite liegen. Allerdings will es mir nicht in den Sinn, dass das wirklich geschehen wird. Sterben? Ich? Nie im Leben!

Auch wenn es nachweislich mit jedem Menschen passiert, kann ich mir nicht ernsthaft vorstellen, irgendwann tot zu sein. Sterblich fühle ich mich nur an unguten Tagen. Wenn ich schlecht gelaunt und kränklich bin, halte ich nichts für realer als den Tod. An guten Tagen hingegen halte ich den Tod für vollkommen irreal. Wie ist es möglich, dass das Wunderwerk des Körpers, der so voller Leben ist, und all das Fühlen, Denken, Reden, Tun und Lassen eines Ich einmal zu Asche wird? Wie kann ein ausgewachsener Mensch zu einem solchen Häuflein schrumpfen?

Die Stärke des Grabes: Der sinnliche Eindruck des Ortes ruft übersinnliche Gedanken wach. Für wen oder was lebe ich? Lebe ich so, dass es mir schön und bejahenswert erscheint? Es hilft bei der Orientierung im Leben, sich in Gedanken immer wieder an seiner Grenze aufzuhalten. Von hier aus fällt es leichter, neuen Mut zu schöpfen und wieder Sinn im Leben zu finden, mit Freuden zurück ins Leben und hinaus in die Welt zu gehen.

Der Umgang mit dem Tod ist der Schlüssel zum Leben. Hier am Grab begegne ich anderen, in deren Erinnerung ebenfalls Tote leben. Hier mache ich mir Gedanken darüber, dass der oder die Tote nicht wirklich hier ist. Ein Grund dafür könnte sein, dass nichts an ihm oder ihr tot ist.

In der gesamten Natur ist ein Kreislauf von Werden und Vergehen erkennbar, es kann sich damit also beim Menschen, der doch Teil der Natur ist, wohl kaum anders verhalten. Was heißt angesichts dessen eigentlich Tod? Wo ist meine Frau?

Ihr letzter Blick in meine Augen kam von ganz nah aus weiter Ferne. Im allerletzten Moment, unmittelbar bevor das Feuer ihre sterblichen Überreste definitiv in Energie verwandelte, habe ich noch einmal ihre Hände berührt. Danke, du wunderbare Frau, dass ich dein Mann sein durfte.

WILHELM SCHMID
Seine Bücher über die Lebenskunst sind Bestseller. Er selbst, Jahrgang 1953, ist einer der beliebtesten deutschen Philosophen der Gegenwart. Soeben erschien von ihm Den Tod überleben. Vom Umgang mit dem Unfassbaren (Insel Verlag).
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