Mit Gott durch die Pampa
Christine Thürmer wanderte eineinhalb Mal um die Welt. Dabei fand sie ihren Glauben wieder.
Von Christina Fleischmann
4. Dezember 2024, 16:43 Uhr
Erschienen in Christ & Welt
Es ist, das muss man sagen, recht naheliegend, wo man eine Frau trifft, die so viel wandert wie kaum jemand sonst: draußen, zum Wandern. Christine Thürmer selbst würde das wohl nicht so bezeichnen, für sie sind zweieinhalb Stunden gemächliches Gehen, während man plaudert, eher ein Spaziergang. Für eine Tour unter 1.000 Kilometern bricht sie selten auf. Erst vor Kurzem wanderte die 57-Jährige sieben Monate lang durch Taiwan, Korea, Australien und Japan. Nun ist sie wieder zurück in Deutschland, genauer: in Berlin-Marzahn. Hier wohnt sie, wenn sie nicht gerade unterwegs ist, in einem der vielen Plattenbauten, die in den grauen Himmel ragen. Zum Treffpunkt an einer vierspurigen Straße kommt Thürmer zu Fuß, sie trägt Wanderschuhe, ein Tuch um den Kopf und eine Brille mit schmalen Gläsern, durch die ihre Augen immerfort zu lächeln scheinen.
Es geht von der Straße weg auf einen Kiesweg, die Steinchen knirschen unter den Schuhen, der Autolärm ebbt langsam ab. Die Tour in Japan sei hart gewesen, sagt Thürmer. Das Gelände brutal steil, das Klima wie in der Dampfsauna, dazu Blutegel, die sich an der Haut festsaugen und die ganze Ausrüstung besudeln. Statt normalerweise 35 Kilometer am Tag zu laufen, war sie froh über 20. Im Jahr zuvor hatte sie denselben Trail, den Tokai Shizen Hodo, nach ein paar Wochen abgebrochen, zu gefährlich. Trotzdem sagt Thürmer mit dieser Fröhlichkeit, die aus ihr heraussprudelt: "Wandern macht einfach glücklich!" Und dieses Glück, wurde ihr irgendwann klar, muss doch irgendeinen Ursprung haben.
Seit 20 Jahren wandert Thürmer durch die Welt, meist ist sie allein unterwegs. 65.000 Kilometer hat sie nach eigenen Angaben zurückgelegt – so viel wie keine andere Frau, wie sie sagt. Das entspricht eineinhalb Erdumrundungen. Tage, Wochen, Monate verbrachte sie in der Natur und dachte sich: Das ist alles so schön, das kann doch kein Zufall sein. Nach Tagesmärschen von bis zu 16 Stunden lag sie abends in ihrem Zelt, möglichst gut versteckt in der Wildnis, als dieses überwältigende Gefühl sie überkam. "Ich bin übergequollen vor Dankbarkeit. Ich hätte schreien können: Danke, danke, danke." Nur, fragte sie sich, bei wem soll ich mich bedanken? Da muss es jemanden geben, der es gut mit mir meint. "So habe ich durch das Wandern wieder zum Glauben gefunden."
Wieder, sagt sie. Denn zwischendurch war ihr der Glaube für viele Jahre abhandengekommen. In Forchheim wuchs sie auf, einer Kleinstadt in Franken mit 33.000 Einwohnern. Die Eltern erzogen sie und ihre neun Jahre ältere Schwester katholisch, wie sie erzählt. Zur Grundschule, geführt von Klosterschwestern, ging sie über die Straße. Die Kirche, die die Familie regelmäßig besuchte, lag um die Ecke. Eine Großtante nahm sie mit zum Rosenkranzbeten.
Wie die meisten Kinder hinterfragte Christine Thürmer den Glauben nicht. Bis sie in die Pubertät kam – und begann, Bertrand Russell zu lesen, der die christliche Religion als grausam bezeichnet, weil sie auf Angst basiere, und an den Verstand appelliert. Für Thürmer klang seine Theorie logischer als die Existenz eines Gottes. Zudem missfiel ihr die Haltung der katholischen Kirche zur Rolle der Frau. Das ist übrigens bis heute so. Sobald es möglich war, mit 16, trat sie aus der Kirche aus, wurde überzeugte Atheistin. Eine Rebellion auch gegen die Eltern, denen der Sinneswandel ihrer Tochter gar nicht gefiel. Sie zog nach Berlin, studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, wurde Managerin. Sie sanierte Firmen, in denen es kriselte, entließ Mitarbeiter, so erzählt sie es.
Obwohl sie damals nicht an Gott glaubte, las sie die Bibel, sogar mehrmals, wie sie sagt. Heute tut sie es wieder, auf eine andere Weise. Sie zieht ihr Smartphone hervor, bleibt stehen und liest vor: "Bist du neidisch, weil ich so großzügig bin, so werden die Letzten die Ersten sein." Seit einiger Zeit habe sie eine App, die ihr jeden Tag einen Bibelspruch zeige. Heute: Matthäus 20,15-16. Jede Nacht vor dem Einschlafen schaut sie sich die aktuelle Losung an und sinniert eine Weile darüber.
Sie schreibt dazu nichts in ihren Büchern, spricht darüber nicht in ihrem Bühnenprogramm, wollte sich in Interviews zum Thema Religion lange nicht äußern. "Um niemanden abzuschrecken", sagt sie. Wandern mache alle Menschen gleich, das sei ja das Tolle daran. Wenn man vor einem Berg stehe, sei dem völlig egal, ob man dick oder dünn, arm oder reich, Atheist oder Christ sei. Mittlerweile hat sie ihre Meinung geändert, sie spricht über ihren Glauben, der gehöre eben zu ihr.
2004 verlor Thürmer ihren Job, laut ihrem Arbeitgeber "aus betrieblichen Gründen", wie sie in einem ihrer vier Bücher schreibt. Zur gleichen Zeit erlitt ein Freund einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Damals beschloss sie zum ersten Mal, wandern zu gehen. Sie lief den Pacific Crest Trail, der 4.277 Kilometer weit von Mexiko durch die USA nach Kanada führt. Fünf Monate und einen Tag brauchte sie dafür. Als sie in ihr Leben nach Deutschland zurückkehrte, war sie nicht mehr dieselbe. Sie suchte sich einen Job, aber dachte: Ich will wandern. Für das nächste Abenteuer, den Continental Divide Trail, fast 5.000 Kilometer lang, wieder durch die USA, verhandelte sie mit ihrem Arbeitgeber eine fünfmonatige Auszeit. Auf ihrer Tour telefonierte sie mit einem Freund, der ihr sagte: Du hast Post bekommen, deine Kündigung. Heute nennt sie es das Beste, was ihr passieren konnte. Seitdem ist ihre Chefin die Natur, zwei Termine hat Christine Thürmer am Tag: Sonnenaufgang, dann bricht sie auf, und Sonnenuntergang, wenn sie ihr Zelt aufschlägt.
Sechs bis acht Monate im Jahr wandert sie. Den Rest der Zeit, sie nennt es Urlaub, verdient sie Geld, schreibt Bücher oder tourt mit ihrem Programm durch Deutschland. Wander Woman heißt das aktuelle. Sie gibt sich darin selbstironisch: Wenn sie mit X-Beinen, Plattfüßen und fünf Kilo Übergewicht Tausende Kilometer wandern könne, dann könne das jeder. Sie teilt mit dem Publikum ungeschönte Fotos von sich und erzählt dazu detailliert aus ihrem Alltag (ihren Kochtopf benutzt sie auch als Nachttopf).
"Da hinten ist ein Friedhof, den können wir uns anschauen", sagt Thürmer jetzt. "Ich liebe Friedhöfe." Als sie am Eingang einen Brunnen sieht, steuert sie schnurstracks darauf zu. Ein Wanderreflex. Friedhöfe sind gute Wasserquellen. "So, jetzt gucken wir mal." Thürmer dreht den Hahn auf, bis ein Strahl herausschießt. Sie lässt ihn einige Sekunden laufen, dann beugt sie sich nach vorn und nimmt ein paar Schluck.
Nicht nur wegen des Wassers besucht sie gern Friedhöfe. Auch weil es Orte voller Geschichten sind. Für Thürmer sind die Länder, die sie besucht, ein Quell neuen Wissens. Um mehr über deren Kultur und Historie zu lernen, hört sie beim Wandern Podcasts oder Hörbücher. Nach ihrer Tour durch Japan kenne sie sich ganz gut aus mit Tsunamis, seitdem sie vergangenes Jahr die Frontlinie des Ersten Weltkriegs mit dem Fahrrad abgefahren ist – Thürmer radelt und paddelt auch lange Strecken –, kann sie pausenlos reden über Soldatengräber in verschiedenen Ländern. Selbst auf dem kleinen Friedhof in Berlin scheint ihre Neugier grenzenlos. Sie bleibt vor einem Grab stehen, zückt ihr Smartphone und sucht im Internet nach Infos zu einem Symbol auf dem Stein und zum Namen der verstorbenen Person.
Der Abstecher zum Friedhof war nicht geplant, aber wenn man schon mal hier ist: Wie denkt sie übers Sterben? Sie habe einmal ein Buch gelesen, sagt Thürmer, in dem der Held neugierig auf das Sterben war. Ein schöner Gedanke, findet sie, diese Vorfreude wünsche sie sich auch. "Ich denke mir: Wenn Gott mich im Leben so reich beschenkt hat, dann wird er mich nicht mit dem Tod hängen lassen." Trotzdem möchte Thürmer, die sich akribisch auf ihre Wanderungen vorbereitet, auch für die letzte Reise gewappnet sein. Sie hat sich vorgenommen, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Natürlich habe sie noch viel vor, sagt Thürmer, aber wenn sie tot umfallen würde, hätte sie alles erlebt, was sie wollte. Auf Vorrat leben, das wäre nichts für sie. So nennt sie es, wenn man sich seine Vorhaben bis zur Rente aufspart.
Man trifft selten Menschen, die von sich sagen: Ich habe ein großartiges Leben. Christine Thürmer hört man es oft sagen. So oft, dass man doch einmal nachhaken möchte. Gibt es denn keine traurigen, einsamen, mutlosen Momente? "Sie zahlen für jedes Leben einen Preis", sagt Thürmer. "Der Preis, den ich zahle, ist, dass ich in emotionalen Momenten mutterseelenallein in der Pampa sitze." Vor allem an ihrem Geburtstag spüre sie, wie weit weg ihre Liebsten sind. 2014 verbrachte sie den Tag in Finnland in einem orthodoxen Kloster, besuchte abends den Gottesdienst. "Obwohl mich die Liturgie mit einer tiefen Ruhe erfüllt, bin ich doch auch ein wenig traurig", schreibt sie in einem Buch. "Eigentlich bin ich gerne allein unterwegs und fühle mich dabei selten einsam, doch Weihnachten, Silvester oder mein Geburtstag sind auch für mich nicht ganz einfach." Auch deshalb besucht sie Gottesdienste, zu Hause regelmäßig und auf Reisen, wann immer es möglich ist. Es gebe ihr ein Gefühl von Heimat, sagt Thürmer. Die katholische Messe läuft überall gleich ab, auch wenn die Sprache eine fremde ist, kann sie folgen.
Überhaupt schaut sie in jedes Kloster, in jede Kirche, an der sie vorbeikommt. Zum einen, weil es dort Strom gibt und sie für ihr Telefon ab und zu welchen braucht (dafür hinterlasse sie immer eine Spende). Zum anderen, sagt sie, wolle sie dem lieben Gott einfach Guten Tag sagen. Nicht dass sie dafür ein Gotteshaus bräuchte. Sie spreche auch so jeden Tag mit ihm, erzähle ihm, was sie erlebt hat – sie habe ja viel Zeit auf ihren Touren.
Beim Wandern, sagt sie, komme man Gott besonders nahe, weil man sich ihm auf besondere Weise aussetze. Da draußen könne man nicht mal schnell einen Freund anrufen, Hilfe holen, wenn es brenzlig wird. "Wenn man in den Rocky Mountains steht, vor einem der Grizzlybär, ein Gewitter aufzieht, und im Umkreis von 100 Kilometern ist niemand, dann wird man demütig." In solchen Momenten bitte sie Gott nicht um Hilfe, sondern um Erleuchtung, um zu wissen, was zu tun sei. "Er hat mir alle Werkzeuge mitgegeben, die ich brauche. Benutzen muss ich sie schon selbst." Sie findet, das gelinge ihr bis jetzt ganz gut.
Gegen Ende des Gesprächs führt der Weg an einer Kirche vorbei, auch das: Zufall. Die Tür ist verschlossen. Im Garten recht eine Frau Laub zusammen. "Sie haben nicht zufällig den Schlüssel für die Kirche, dass man kurz reingucken kann?", fragt Thürmer. Leider nicht. Sie bedankt sich und geht weiter. Da erinnert sie sich an einen Pilgerweg, den sie einmal in Brandenburg gegangen ist. Eine schöne Route, kaum besucht, mit kleinen Kirchen, die man besichtigen konnte. Nicht zu vergleichen mit dem spanischen Jakobsweg, der komplett kommerzialisiert sei, schrecklich! Sie ist ihn auch schon gegangen, wollte aber schnell ans Ziel kommen, nach Santiago de Compostela. Mit Pilgern habe das nichts zu tun gehabt, der Gottesbezug habe gefehlt.
Genau den soll es bei ihrer nächsten Tour geben. Nachdem sie zuletzt vor allem asiatische Tempel gesehen hat, in denen ihr die Religion fremd blieb, hat Thürmer jetzt Lust auf christliche Kirchen. Ab dem Frühjahr will sie die großen Wallfahrtsorte in Europa ablaufen: Mariazell in Österreich, Czestochowa in Polen, Medugorje in Bosnien und Herzegowina. Eine solche Tour, die sie sich selbst zusammenstellt, braucht etwa zwei Monate Vorbereitung.
Thürmer, die einst gegen die katholische Kirche rebellierte, klingt nun erstaunlich versöhnt mit ihr. Sie lacht. "Ich bin altersmilde geworden. Ich denke mir, jeder macht Fehler." Wieder eingetreten ist sie aber nicht. Schließlich hätten sich die Dinge, die sie damals zum Austritt bewogen haben, nicht geändert: Frauen dürfen immer noch nicht Priesterinnen und nicht einmal Diakoninnen werden. Statt Kirchensteuer zu zahlen, spende sie in gleicher Höhe für christliche Organisationen. Der christliche Glaube sei für sie entscheidend. Was sie dabei am meisten überzeugt? Ein Gefühl, sagt sie, und zwar ein großartiges: geliebt zu werden.
Korrekurhinweis: In der ursprünglichen Version hieß es, Thürmer sei eigenen Angaben zufolge so viel gewandert wie niemand sonst. Richtig muss es heißen: so viel wie keine andere Frau.