22.04.2024, 12:28
Jomo ist das neue Fomo
Einfach mal wieder nichts tun wäre schön! Kann man das lernen? Womöglich ist ein Trend aus den Niederlanden die Antwort.
Protokoll: Anna-Lena Schlitt
22. April 2024, 5:43 Uhr
Ist es Talent? Liegt es an den Genen? Oder kann man es lernen? In unserer neuen Serie nehmen wir uns jeweils eine Fähigkeit vor. Diese Woche erklärt die Autorin Olga Mecking, wie man die Seele baumeln lässt.
In den Niederlanden gab es in den vergangenen Jahren einen kleinen Hype um Niksen. Es bedeutet "Nichtstun". Als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich gerade in einer sehr stressigen Phase, ich war müde und überfordert. Ich dachte mir: Endlich sagt mir mal jemand, dass es okay ist, nichts zu tun. Niksen hat mir geholfen, zur Ruhe zu kommen.
Wir sind in unserem Alltag unglaublich beschäftigt: Wir jonglieren Arbeit, Haushalt, Familie, Partnerschaft und Freizeit. Und trotzdem haben wir immer das Gefühl, dass wir noch mehr machen müssen. Unsere To-do-Listen werden länger statt kürzer: Meetings, Kochen, Putzen, Einkaufen, Sport. Das Telefon klingelt, wir bekommen Nachrichten über WhatsApp oder Facebook, das Mail-Postfach quillt über. Wir sind rund um die Uhr erreichbar. Und wir erwarten rund um die Uhr Leistung von uns. Wir beantworten Arbeitsmails um 23 Uhr und bügeln noch schnell den Wäscheberg weg, statt uns aufs Sofa zu setzen. Dieser Leistungsdruck reicht bis in unsere Freizeit. Jede freie Minute muss aktiv und effektiv genutzt werden – mit einem Wochenendtrip oder Training für den Marathon.
Es geht nicht um lange Auszeiten
Viele fühlen sich ausgebrannt. Sie haben ein starkes Bedürfnis danach, sich auszuruhen, einfach mal zu faulenzen. Aber wann? Erholung verbinden wir damit, zum Yoga zu gehen oder zu meditieren. Der Weg ins Sportstudio kostet Zeit und der zusätzliche Termin verursacht oft mehr Stress, als dass er hilft. Der Ansatz von Niksen ist ein gänzlich anderer: Ziel ist es, dem Alltagsstress etwas entgegenzusetzen – und zwar das radikale Gegenteil.
Bei Niksen geht es nicht um lange Auszeiten, sondern um kleine Alltagspausen. Sie müssen sich also keinen ganzen Nachmittag freischaufeln. Die Idee ist eher: kurze Pausen, aber dafür oft. Fünf bis zehn Minuten reichen schon. Länger ist natürlich auch erlaubt!
Es kann helfen, feste Zeiten in den Tages- und Wochenplan einzubauen. Wenn wir etwas planen, sehen wir es als wichtig an: Arzttermine und Konferenzen schreiben wir selbstverständlich in unsere Kalender. Das funktioniert auch mit Niksen. Reservieren Sie sich mindestens eine Auszeit pro Tag – ob bei der Arbeit oder in den eigenen vier Wänden.
Die Welt vorbeiziehen lassen
Wer nicht planen will, kann Niksen auch auf eine andere Art und Weise in seinen Alltag integrieren. Es gibt täglich so viele Situationen, in denen Sie auf etwas warten müssen: an der Bushaltestelle, im Zug oder im Wartezimmer beim Arzt. Statt in diesen Momenten das Handy herauszuholen, können Sie auch einfach aus dem Fenster schauen, die Welt vorbeiziehen lassen – und nichts tun.
Suchen Sie sich am besten einen Ort, an dem Sie sich wohlfühlen. Etwa eine Bank im Park, eine Schaukel im Garten oder einen bequemen Sessel am Fenster. Wenn Sie es schwierig finden, sich zu Hause oder im Büro zu entspannen, können Sie auch spazieren gehen oder sich in ein Café setzen. Lassen Sie ihr Handy daheim, schalten Sie den Computer aus und versuchen Sie ganz im Moment zu sein. Niksen heißt wirklich gar nichts tun – nur mit sich und den eigenen Gedanken sein.
Das kann gerade am Anfang ziemlich herausfordernd sein. Wir sind es gewohnt, ständig beschäftigt zu sein. Machen wir plötzlich gar nichts, fühlen wir uns unwohl. Mir hilft es zum Beispiel, wenn ich etwas beobachte. Das kann alles Mögliche sein: Fische im Aquarium, Regentropfen, die an die Scheibe prasseln, Wolken, die vorbeiziehen oder Menschen, die vorbeilaufen. Auch Stressbälle helfen. Dann sind Ihre Hände beschäftigt, aber der Kopf ist frei.
The Joy of Missing out
Wer damit nicht klarkommt, sollte eine Aktivität finden, die ablenkt, aber keine Konzentration oder Anstrengung erfordert. Stricken Sie einen Schal, schreiben oder zeichnen Sie in ein Notizbuch, bauen Sie etwas aus Lego, kochen Sie ein Rezept, das Sie auswendig können oder backen Sie einen Kuchen, gehen Sie in den Wald oder joggen Sie eine Runde.
Die Aktivität soll keinen Zweck erfüllen
Wichtig dabei ist: Die Aktivität sollte keinen Zweck erfüllen. Wir erwarten von jeder Tätigkeit, dass sie uns etwas bringt. Wir gehen nicht mehr spazieren, weil wir Lust darauf haben oder es sich gut anfühlt, sondern weil wir täglich 10.000 Schritte machen möchten. Wir kochen Gerichte nicht mehr, weil sie uns schmecken, sondern weil die Zutaten gesund sind. Das baut sehr viel Druck auf.
Wir haben ständig Angst, etwas zu verpassen. Das Phänomen ist so verbreitet, dass es dafür sogar einen eigenen Begriff gibt: Fomo, the Fear of Missing Out. Das betrifft Nachrichten ebenso wie Partys oder Meetings. Niksen kann dabei helfen, Prioritäten zu setzen. Nur wenn wir manchmal innehalten, können wir uns fragen: Was möchte ich wirklich machen? Was ist mir wirklich wichtig? Ein Gegenkonzept zu Fomo ist Jomo, the Joy of Missing Out. Und es stimmt: Nichtstun tut uns richtig gut.
Es macht sogar produktiver
Nichtstun hat in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf. "Der ist ein richtiger Macher" ist ein Kompliment. Wer nichts macht, gilt schnell als faul. Wir haben das Gefühl, dass wir uns unsere Pausen verdienen müssen – gerade im Arbeitskontext. Das ist aber der falsche Ansatz und führt im schlimmsten Fall zu Burn-out. Wenn wir geistig erschöpft sind, können wir gar nicht produktiv sein.
Das verstehen wir oft besser, wenn es um unseren Körper geht. Natürlich brauchen wir nach dem Joggen eine Pause, ist ja klar! Bei unseren Köpfen sind wir nicht so nachsichtig. Die lassen wir den ganzen Tag hart arbeiten. Bei Niksen geht darum, auch mal geistig abzuschalten. Nach einer Pause sind wir wieder fokussierter und können unsere Aufgaben viel effizienter erledigen. Das heißt, Nichtstun macht uns sogar produktiver! Aber nicht, weil das das Ziel ist, sondern quasi als Begleiterscheinung.
Den Bauch nach oben legen
Auf eine ganz ähnliche Art fördert Niksen auch die Kreativität. Es gibt den Spruch, dass einem die besten Ideen unter der Dusche kommen. Da ist was dran. Denn gerade in den Momenten, in denen wir uns nicht auf das Problem, das wir lösen wollen, konzentrieren, finden wir die Lösung. Gute Ideen brauchen Zeit – und Niksen hilft sehr, sich diese Zeit zu nehmen.
In fast jeder Sprache gibt es ein Wort für Niksen. Im Polnischen sagt man "leżeć do góry brzuchem". Das heißt so viel wie "sich mit dem Bauch nach oben legen". Amerikaner haben den "lazy Sunday afternoon", den faulen Sonntagnachmittag. In Italien spricht man von "dolce far niete", dem süßen Nichtstun. Und auch im Deutschen gibt es zwei schöne Formulierungen: Tagträumen und die Seele baumeln lassen. Sie erinnern uns daran, dass Nichtstun zum Leben dazugehört – wir müssen es nur wieder lernen.
26.04.2024, 07:11
Hallo Bernd und alle Hübianer
Das ist ein erstklassiges Statement, könnte glatt von mir stammen, kam aber nicht drauf. Die Autorin sieht das alles ganz richtig, man braucht nur den richtigen Anstoß, den sie offensichtlich durch die amerikanische JOMO-Version gefunden hat. Dass weltweit auch andere Völker das ewige Hetzen nach mehr und immer besser im Grunde genommen durch die gut gewählten und zutreffenden Zitate konterkarieren, belegt, es geht mit Sicherheit auch anders.
Dem kann ich mich in meiner heutigen Lebenssituation ohne Wenn und Aber anschließen: Eile mit Weile.
Hotti