Dieser Mann gestand unserem Autor einen Mord
Phoenix, Arizona, Sommer 2021. Eigentlich will Bastian Berbner einen ehemaligen Neonazi über seinen Ausstieg interviewen. Doch plötzlich wird er zum Mitwisser eines ungesühnten Verbrechens – und fragt sich: Was soll ich jetzt tun?
Von Bastian Berbner
Aus der ZEIT Nr. 27/2024
19. Juni 2024
Michael Kent steht schon in der Tür, als ich aus dem Auto steige. Ein groß gewachsener, hagerer Mann, den alle nur Mike nennen, 42 Jahre alt. Er raucht. Unter seinem weißen Unterhemd sehe ich das Wolfstattoo hervorragen, das ich aus dem Fernsehen kenne. Mike ließ sich vor einigen Jahren filmen, als er ein riesiges Hakenkreuz auf seiner Brust mit diesem Wolf überstechen ließ. Es ist Juli 2021, fast 50 Grad Außentemperatur. Ich bin hier rausgefahren, in die Wüste Arizonas im Südwesten der USA, um mit ihm, dem früheren Neonazi, über seinen Ausstieg aus der Szene zu sprechen. Ich meine ziemlich genau zu wissen, was mich erwartet.
Mikes Läuterung gleicht einem modernen Märchen. Zufällig bekam er, der weiße Neonazi, vor einigen Jahren eine Bewährungshelferin, die schwarz war, eine Frau namens Tiffany Whittier. Es geschah das Unmögliche: Die beiden freundeten sich an – und er änderte sein Leben. Über diese 180-Grad-Wende, die so unmöglich scheint im hasserfüllten, auseinanderdriftenden Amerika, will ich schreiben.
Mike bittet mich hinein in sein einfaches Haus. Drinnen ist es dunkel und klimaanlagenkühl. An der Wand hängen gerahmte Fotos, Trophäen seines neuen Lebens. Mike, Arm in Arm mit Tiffany. Mike und Tiffany während eines Fernsehinterviews. Mike und Tiffany mit einer Tochter von Martin Luther King. Wir setzen uns ins Wohnzimmer, Mike macht sich ein Bier auf, ich schalte mein Aufnahmegerät an.
Er beginnt zu erzählen, und ich merke, wie gern er redet. Farbig und detailliert blättert er sein Leben vor mir auf – ein einziges White-Trash-Klischee. Der Vater verschwand, als Mike zwei war. Die Mutter, eine Trinkerin, hielt die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Die vier Kinder waren weitgehend auf sich allein gestellt. Als Teenager verkaufte Mike Drogen, er nahm auch selbst welche. Im Jugendgefängnis schloss er sich einer Neonazi-Gruppe an.
Er erzählt, dass er mit seinen Neonazi-Kumpels damals Jagd gemacht habe auf Schwarze. Dass er mit Stiefeln auf sie eintrat, mit Baseballschlägern zuschlug. Er steht auf, zieht sein Unterhemd hoch, eine münzgroße Narbe an der Hüfte, glatter Durchschuss, sagt er. "Wo ich aufgewachsen bin, war Gewalt an der Tagesordnung."
Die Geschichten aus seiner dunklen Jugend sprudeln einfach so aus ihm heraus, ein nicht enden wollender Wortschwall der Abgründe und Grausamkeiten. Erschüttert von all der Brutalität, frage ich Mike, welche seiner Taten die schlimmste war.
Er schaut mich an. Hält inne. Dann flüstert er, gerade noch hörbar: "Ich habe jemanden umgebracht."
Ich sehe ihn fragend an.
Er blickt auf das Aufnahmegerät, als ob er sagen will: Ich kann es nicht wiederholen. Dann zieht er langsam seinen Finger an seiner Kehle entlang und sagt, wahrscheinlich den Schock in meinen Augen sehend: "Yeah."
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was gerade passiert ist – und bin froh, dass Mike zum nächsten Thema springt. Ich höre nicht mehr zu, meine Gedanken rasen. Was hat er mir da gerade gestanden? Es wirkte nicht so, als wäre jemand bei einer Prügelei gestorben, ohne dass Mike es gewollt hätte. Es wirkte eher wie ein kaltblütiger Mord. In den Medienberichten über Mike war von so etwas nie die Rede. Ich weiß, dass er ein paar Jahre im Gefängnis war, allerdings wegen vergleichsweise kleiner Delikte. Wäre er für einen Mord verurteilt worden, säße er jetzt nicht hier.
Es kann sich nur um eine Tat handeln, mit der er davongekommen ist. Aber warum erzählt er dann einem Reporter davon, während das Aufnahmegerät läuft? Wahnsinn. Mord verjährt nicht. Mike muss doch wissen, dass es ihn ins Gefängnis bringen kann, wenn ich sein Geständnis veröffentliche.
Natürlich will ich ihn in diesem Moment fragen: Wen hast du umgebracht? Wann? Wie? Warum? Aber das mache ich nicht. Ich sitze hier in einem Haus in der Wüste, allein mit einem Mann, der sehr viel Gewalt in seinem Leben ausgeübt hat. Aus Vorsicht – vielleicht auch aus Überforderung – führe ich das Interview weiter, als hätte er den Satz nicht gesagt. Dann verabschiede ich mich.
Wie ein Automat fahre ich durch die Dunkelheit. Suche mir ein Motel, auf dem Zimmer spiele ich die Aufnahme ab. Höre mich fragen, auf Englisch: "Was ist das Schlimmste, das du je einem anderen Menschen angetan hast?"
Und Mike antworten: "Killed’m."
Zwei vernuschelte Wörter. Ich bin unsicher, ob er him oder them sagt, Singular oder Plural. Aber das erste Wort ist klar zu verstehen. Killed. Umgebracht.
Mitte der Neunziger geschah die Tat
Am nächsten Morgen fahre ich zu Tiffany Whittier, Mikes ehemaliger Bewährungshelferin. Sie wohnt mit ihrer Familie in einem hübschen Haus südlich von Phoenix, der Hauptstadt von Arizona. Sie empfängt mich herzlich und erzählt, dass Mike einer ihrer ersten Fälle war. Wie sie es schaffte, das Hakenkreuz auf seiner Haut, die Reichskriegsflagge an seiner Wand, das Hitlerporträt auf seiner Windschutzscheibe zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was ihr Job verlangte: keine Waffen, keine Drogen, festes Einkommen. Wie sie im Laufe der Monate einen Draht zu Mike aufbaute. Wie er sich deswegen vom Hass lossagte.
Dann kommt auch schon Mike vorbei, das haben wir am Tag vorher verabredet. Er trägt einen Cowboyhut und ein T-Shirt mit der Aufschrift "I love beer". Die beiden umarmen sich und reden wie das, was sie sind: alte Freunde. Nach zwei Stunden fährt Mike seine Kinder besuchen, dreizehn und elf Jahre alt, sie leben bei seiner Ex-Frau. Auch ich verabschiede mich.
Die Geschichte, derentwegen ich nach Arizona gekommen bin, ist also wahr: Die Freundschaft mit einer schwarzen Frau hat einen Ex-Neonazi gerettet. Heute spricht er sich öffentlich gegen Rassismus aus. Nur ist mir das gerade ziemlich egal.
Am Nachmittag telefoniere ich noch einmal mit Mike: "Du hast gestern gesagt, du hättest jemanden getötet. Kannst du mir erzählen, was passiert ist?"
"Warte", antwortet er, "ich muss in ein anderes Zimmer, meine Kinder sind da." Ich höre eine Tür ins Schloss fallen. Ich denke, dass er jetzt sagen wird, ich hätte mich verhört oder er habe sich versprochen. Stattdessen fängt er an zu erzählen: "Da war dieser schwarze Typ, der eines von unseren Mädchen angebaggert hat. Sie hat mich angerufen, und wir haben ihn uns vorgeknöpft."
Das alles sei Mitte der Neunziger in Phoenix passiert, als er 16 oder 17 war. In der Bell Road, direkt neben einem kleinen Supermarkt der Kette 7-Eleven. Vor der Wohnung des Mädchens seien sie auf den schwarzen Jungen gestoßen, sagt Mike: er selbst und zwei Neonazi-Kumpels. Er, Mike, habe auf ihn eingestochen, die beiden anderen hätten zugeschaut.
Er spricht von einem Opfer. Also him. Singular.
"Woher weißt du, dass der Junge gestorben ist?", frage ich.
"Da war überall Blut. Keine Chance, dass er überlebt hat. Außerdem kam es in den Nachrichten."
"Wie hieß der Junge?"
"Weiß ich nicht. Interessierte mich damals nicht."
"Was ist aus den beiden Kumpels geworden?"
"Das sind Idioten. Die hatten mit Drogen zu tun, mit Waffen. Wahrscheinlich sind sie für den Rest ihres Lebens im Knast." Ihre Namen nennt er mir nicht.
Am Ende unseres Telefonats sagt Mike noch: "Was ich dir gerade erzählt habe, weiß niemand."
Das Dilemma
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland raten mir Journalistenkollegen und Bekannte, Mike einfach anzuzeigen. Andere empfehlen mir, sein Geständnis in der ZEIT zu veröffentlichen. In beiden Fällen, stelle ich mir vor, wäre das Resultat dasselbe: Mike würde festgenommen, angeklagt, verurteilt, eingesperrt. Vielleicht für immer.
Damals, im Sommer 2021, frage ich mich: Würde dann nicht vieles von dem, was er erreicht hat, zunichte gemacht? Sein Ausstieg, sein neues Leben, seine Vorbildfunktion. Sollte Mike in der Haft auf seine ehemaligen Neonazi-Freunde treffen – was würden sie mit ihm, dem Verräter, machen? Bei unserem Treffen hat er mir gesagt: "Wenn ich wieder ins Gefängnis muss, bin ich ein toter Mann." Und, nicht zuletzt: In Arizona gibt es die Todesstrafe. Unterschreibe ich sein Todesurteil, wenn ich ihn anzeige oder sein Geständnis veröffentliche?
Einige wenige Leute sagen mir: Vergiss die Sache, lass Mike in Ruhe. Jedes Mal, wenn er mit Tiffany auftrete, zeige er, dass der Hass besiegt werden könne. Das sei wertvoller, als noch einen weiteren Mörder zu bestrafen für eine Tat, die lange her ist.
Aber natürlich geht das nicht. Allein schon, weil die Familie des Opfers ein Recht hat, zu erfahren, was mit ihrem Sohn, Bruder, Neffen passiert ist.
Ich beschließe, den Fall journalistisch zu recherchieren.
Ich rufe Mike an, aber er geht nicht ran. Er beantwortet auch keine Nachrichten mehr. Wahrscheinlich, denke ich, hat er verstanden, in welche Gefahr er sich mit seinem Geständnis gebracht hat. Also fliege ich nach Phoenix.
Wer war das Opfer?
Es sieht alles so aus, wie Mike es beschrieben hat. Hier, an diesem Ort, muss es passiert sein. Ich stehe vor dem kleinen Supermarkt in der Bell Road – ein flaches Gebäude an einer sechsspurigen Straße. Drinnen kauft gerade ein Afroamerikaner eine Cola. Er ist wahrscheinlich nicht viel älter als Mikes Opfer damals. Ich warte, bis er das Geschäft verlassen hat, dann gehe ich rein und frage den Besitzer nach einem Mord, der hier Mitte der Neunziger passiert sein soll. Er sagt, er arbeite erst seit 2007 hier. Wer der Vorbesitzer war, wisse er nicht.
Ich interviewe Menschen, die in der Nähe des Supermarkts wohnen. Die meisten leben noch nicht lange hier, niemand kann mir helfen. Ein junger Mann sagt: "Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich lieber heute wegziehen als morgen. Das ist keine gute Gegend." Nach zwei Tagen hole ich meine Kollegin Amrai Coen am Flughafen ab, die ZEIT-Korrespondentin in den USA, die ich um Hilfe gebeten habe. Wir fahren zu einem Betonklotz in der Innenstadt von Phoenix, dem Hauptquartier der Polizei.
Wer könnte noch von dem Mord wissen?
Dominick Roestenberg, Anfang fünfzig, muskulös, Waffe am Gürtel, führt uns hinauf in den zweiten Stock, vorbei an den Büros für Raubüberfälle und Morde. Er sagt uns, er sei einer von fünf Ermittlern der Cold-Case-Einheit, die sich um die 2.500 ungelösten Mordfälle in der Stadt kümmere. Wir erzählen ihm, was wir wissen, ohne Mikes Namen zu nennen. Roestenberg ruft eine Kollegin an, diktiert ihr die Adresse des Supermarkts. Die Datenbank, erfahren wir, verzeichnet für diesen Ort zahlreiche Einsätze in den letzten dreißig Jahren. Überfälle, Drogendelikte, Messerstechereien, Schießereien. Auch Morde. Aber keinen erstochenen Teenager Mitte der Neunzigerjahre.
"Vielleicht hat das Opfer sich aufs Nachbargrundstück geschleppt und ist dort gestorben", sagt Roestenberg, "dann finden wir unter dieser Adresse nichts. Oder der Junge hat überlebt und nie die Polizei gerufen, was leider immer wieder passiert, vor allem in Teilen der schwarzen Community, weil viele nichts mit den Behörden zu tun haben wollen." In Arizona hatte damals die Polizei ein großes Problem mit Rassismus in den eigenen Reihen. Es besteht bis heute. Laut einer Untersuchung des US-Justizministeriums, vor einigen Tagen veröffentlicht, behandeln in Phoenix Polizisten Schwarze schlechter als Weiße.
Tagelang fahren Amrai Coen und ich kreuz und quer durch Phoenix. Die Archivarin des Notfallkrankenhauses sagt uns, die Akten aus jener Zeit seien vernichtet. Bei Fernsehsendern und Zeitungen, deren Archive weit genug zurückreichen, findet sich nichts. Eine Gerichtsmedizinerin durchsucht für uns ihren Aktenschrank – keine Akte passt. Wir fahren zu einer Schule in unmittelbarer Nähe zum Tatort und besorgen uns die Jahrbücher aus den Neunzigern. Unter den 2.000 Schülerinnen und Schülern damals waren etwa 30 Schwarze. Wir telefonieren sie ab. Diejenigen, die wir erreichen, erinnern sich an nichts. Eine Frau sagt, Rassismus habe an der Schule keine Rolle gespielt.
Schwer zu sagen, in welcher der Sackgassen uns das Gefühl zum ersten Mal beschleicht, aber irgendwann denken wir: Hier stimmt etwas nicht. Wir hätten längst etwas finden müssen. Wieder versuche ich, Mike anzurufen. Wieder vergeblich.
Wir überlegen, wer außer Mike etwas von diesem Mord wissen muss. Die Augenzeugen, klar: die beiden Neonazi-Kumpels und die Freundin, von der Mike angerufen und zum Tatort geholt wurde. Aber deren Namen hat Mike mir verschwiegen. Bleibt noch der damalige Besitzer des Supermarkts. Der, denken wir, muss es doch mitbekommen haben.
Zwei Tage und viele Telefonanrufe später klingeln wir bei ihm an der Tür. Er öffnet, ein freundlicher Mann in Shorts. Er sagt: "Ich weiß nichts von einem Mord. Und glaubt mir, wenn so etwas passiert wäre, wüsste ich davon."
Bin ich auf einen Lügner hereingefallen?
Menschen lügen. Sie lügen jeden Tag. Sie lügen in allen Lebenslagen. Der eine streitet eine Affäre ab oder macht seiner Chefin Komplimente, die er nicht ernst meint. Die andere erfindet für sich selbst einen Doktortitel oder verheimlicht ihr Einkommen beim Finanzamt. So unterschiedlich die Lügen auch sind – die Menschen, die sie erzählen, haben etwas gemeinsam: Sie versprechen sich davon einen Vorteil.
Natürlich lügen Menschen auch in Kriminalfällen. Aber sie lügen sich doch aus einem Mordverdacht heraus – und nicht in einen Mordverdacht hinein. Warum sollte Mike völlig ohne Not eine Lüge erfinden, von der er keinen Vorteil hat? Die ihm, im Gegenteil, sogar zu schaden droht?
Michael Kent. Er hat einen Job auf einer Hühnerfarm, er hat ein Haus, Freunde, zwei Kinder. In der Öffentlichkeit wird er gefeiert als reuiger Sünder, als personifizierte Hoffnung, dass Versöhnung im Amerika der Gegenwart möglich ist. Nach allem, was Mike mir erzählt hat, ging es ihm nie besser als jetzt. Warum nur sollte er all das riskieren?
Ich höre mir meine Gespräche mit Mike noch mal an. Die gesamten vier Stunden. Darin erzählt er Anekdote um Anekdote, eine wilder als die andere, einige so abenteuerlich, dass ich mich erinnere, schon damals gedacht zu haben: Mike, das hast du aus einem Film geklaut. Sollte er tatsächlich vieles davon erfunden haben, dann hätten wir es womöglich mit einem notorischen Lügner zu tun. Mit jemandem, der gar nicht anders kann als lügen. Der sich – auch wenn das eigentlich keinen Sinn ergibt – vielleicht sogar in einen Mord hineinfantasiert.
Mir fällt auf: Fast alle dieser Geschichten hat er mit Namen versehen, mit genauen Orten und Zeiten. Mit Details also, die es mir ermöglichen, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Ich besorge mir Akten über Mike, von der Polizei, von Gerichten, vom Gefängnis, und merke schnell: Der Rahmen seiner Erzählung stimmt. Er war Neonazi. Er saß im Gefängnis. Er stammt aus der Familie, die er beschrieben hat. Dann beginne ich, die Storys zu checken, zum Beispiel diese: Mike saß, ungefähr sechs Jahre alt, nachts auf der Couch und sah fern, als sich von draußen jemand am Fenster zu schaffen machte. Er versteckte sich und beobachtete, wie ein schwarzer Mann einbrach, sich ins Schlafzimmer der Mutter schlich und versuchte, sie zu vergewaltigen. Die Mutter schlief mit einer Pistole unter dem Kopfkissen. Sie schoss auf den Mann. Er floh.
Die Nummer von Mikes Mutter finde ich im Internet. Nach dem dritten Klingeln geht sie ran – es ist wie ein Déjà-vu: Ich muss ihr nicht mal wirklich sagen, wer ich bin oder warum ich anrufe, sie redet und redet, genau wie ihr Sohn. Den Einbruch und die versuchte Vergewaltigung bestätigt sie.
Ich frage sie nach einer weiteren Schockergeschichte. Mike hat mir erzählt, dass seine Mutter, während sie auf sein Baby aufpasste, Crystal Meth nahm und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Dort versuchte Mike sie mit einem Kissen zu ersticken, außer sich vor Wut.
Stimmt auch, sagt seine Mutter.
Ich rufe andere Leute an, die Mike damals kannten. Egal wen, egal wie wild die Story – die Leute bestätigen Mikes Schilderungen. Je mehr Telefonate ich führe, desto weniger wirkt Mike wie ein Lügner. Höchstens wie jemand, der hier und da mal bei Details übertreibt.
Gab es den Mord vielleicht doch? Haben wir in Phoenix etwas übersehen?
Noch einmal schicke ich Mike eine Nachricht, diesmal schreibe ich dazu, dass ich mit seiner Mutter und früheren Bekannten geredet habe. Diesmal schreibt er sofort zurück. Kurz darauf sehe ich sein Gesicht in meinem Handy. Nach ein bisschen Small Talk sage ich ihm, dass ich vergeblich versucht habe, die Tat an der Bell Road zu überprüfen. Er reagiert gekränkt: "Es ist passiert, ganz sicher! Genau dort. Ich wünschte, es wäre nie passiert. Dann müsste ich nicht mit diesen Albträumen leben."
Ich frage: "Wie kann es dann sein, dass niemand etwas von einem toten Teenager weiß?"
"Ich habe nie behauptet", sagt er mit Wut in der Stimme, "dass der Junge gestorben ist."
Ich bin verdutzt. Natürlich hat er das gesagt, ich habe die Aufnahme des Gesprächs, ich kenne die Worte längst auswendig. Mike ist jetzt richtig in Fahrt. "Hast du keine Aufzeichnungen gemacht? Ich habe gesagt, ich habe ihn niedergestochen." Er betont das Wort, als wäre ich schwer von Begriff. "Ob er gestorben ist, weiß ich nicht."
Mike sagt, wenn ich noch mal nach Phoenix käme, zeige er mir gern, wie die Tat ablief.
An einem strahlend schönen Morgen im Januar 2022, sechs Monate nach seinem Geständnis, steigt Mike auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt aus seinem Jeep. Er führt meine Kollegin und mich zu einer heruntergekommenen Wohnanlage aus zweistöckigen Bauten. Unter den Mietern hatte ich bei meinem ersten Besuch versucht, Zeugen zu finden, ohne Erfolg. Mike sagt: "Ich war seit Jahren nicht mehr hier. Es ist kein schönes Gefühl."
Welche Version stimmt?
Er zeigt hinüber Richtung Parkplatz. Von dort sei er damals mit seinen Neonazi-Kumpels angerannt gekommen. Er zeigt zur Wand des Gebäudes, vor dem wir stehen. In dem Haus habe die Freundin gewohnt, die von dem schwarzen Jungen angemacht wurde und ihn, Mike, dann anrief. "Hier stand er, groß, schlank, Basketballklamotten, so alt wie ich, 16, 17 Jahre." Er sei geflüchtet. "Wir haben ihn verfolgt, hier entlang." Mike geht an der Hauswand entlang, Richtung Supermarkt. Die Freundin sei zurückgeblieben, sie habe nicht sehen können, was jetzt passierte. Mike bleibt unter einer Pinie stehen, im toten Winkel des Supermarkteingangs. "Hier haben wir ihn erwischt."
Er, Mike, habe das Messer gezogen, das er immer am Gürtel trug, und es dem Jungen in die Seite gestochen. Danach habe er ihn am Arm verletzt. Der Junge sei zusammengesackt und habe geschrien: "Warum? Warum, du Hurensohn?" Sie hätten auf ihn eingeprügelt. "Sein Gesicht blutete, überall war Blut." Dann habe der Junge unter dem Baum gelegen und sich nicht mehr bewegt. "Wir sind zu mir nach Hause gefahren und haben uns besoffen und zugedröhnt."
Mike hat Tränen in den Augen, als er das erzählt. "Wäre ich allein gewesen, hätte ich es wahrscheinlich nicht getan. Aber man will ja vor seinen Kumpels nicht als Weichei dastehen."
Amrai Coen hat Mike erst an diesem Tag persönlich kennengelernt. Vorher war sie überzeugt davon, dass er lügt. Jetzt flüstert sie mir zu: "Ich glaube ihm. Irgendwas ist damals hier passiert."
Am Ende stehen wir an Mikes Jeep. Ich frage ihn, welche der beiden Versionen, die er mir erzählt hat, wahr sei. Die frühere, in der er den Jungen umgebracht hat? Oder die spätere, in der das Opfer den Überfall überlebt haben könnte? Mike setzt zu einer Antwort an. Bricht ab. Setzt erneut an. Stockt wieder. Stammelt etwas. Sagt schließlich: "Ich weiß nicht, ob er gestorben ist oder nicht."
"Warum hast du es mir erzählt?"
"Ich habe dieses Geheimnis so lange in mir getragen. Seit Jahren kann ich nicht schlafen deswegen, es sei denn, ich bin betrunken oder nehme Schlaftabletten. Nach außen hin sieht es so aus, als ob es mir gut geht. Aber diese Scheiße frisst mich auf. Seit ich mit dir darüber gesprochen habe, schlafe ich ein bisschen besser."
Mikes Sprache, die Details der Schilderung, seine Tränen, sein ganzes Verhalten – alles fühlt sich glaubwürdig an. Sehr sogar. Und trotzdem sind wir immer noch nicht wirklich weiter. Haben immer noch keinen Beweis dafür, dass es diese Tat wirklich gegeben hat.
Vielleicht, fragen wir uns, waren wir bislang zu sehr im Entweder-oder-Denken verhaftet? Entweder Mike lügt, oder er hat jemandem schwere Gewalt angetan – das war unsere Annahme. Aber was, wenn es noch eine dritte Möglichkeit gibt? Kann es sein, dass Mike glaubt, die Wahrheit zu sagen – und sich dennoch irrt?
Falsche Erinnerungen, echte Erinnerungen
Elizabeth Loftus betritt einen Seminarraum der University of California in Irvine, südlich von Los Angeles. 21 Studierende der Psychologie warten auf sie, handgeschriebene Namensschilder vor sich. Loftus ist 79 Jahre alt und eine Koryphäe der Gedächtnisforschung. An diesem Tag spricht sie im Seminar über ein Thema, dem sie ihr ganzes Berufsleben gewidmet hat: falsche Erinnerungen. Es geht um Augenzeugen eines Verbrechens, die der Meinung sind, sie wüssten genau, was sie am Tatort gesehen haben – obwohl die Tat in Wahrheit ganz anders ablief.
Mit zahlreichen psychologischen Experimenten hat Elizabeth Loftus etwas bewiesen, das heute in der Wissenschaft allgemein akzeptiert ist. Anders als früher angenommen, arbeitet das menschliche Gedächtnis nicht exakt. Es funktioniert nicht als eine Art Videorekorder, der etwas aufzeichnet und später unverfälscht wiedergibt. Stattdessen manipulieren Menschen sich ständig selbst. Sie fügen in der Rückschau Dinge zum Selbsterlebten hinzu und formen auf diese Weise eine neue Erinnerung, die sich ebenso echt und lebendig anfühlt wie die ursprüngliche. Dieses Hinzugefügte kann etwas sein, das man gelesen, irgendwo aufgeschnappt, von anderen eingeredet bekommen hat – oder eben, auch das ist möglich, das man sich selbst eingeredet hat.
Am Tag nach dem Seminar empfängt Elizabeth Loftus mich in ihrem Haus auf dem Campus der Uni. Aufmerksam hört sie sich an, was ich ihr über Mike erzähle. "Menschen reden sich ständig Sachen ein", sagt sie dann, "aber einen Mord?" Das sei ihr noch nie begegnet. Vorstellbar, gewiss. Allerdings, erklärt Loftus, handle es sich bei solchen Fehlerinnerungen normalerweise um Dinge, die jemanden besser dastehen lassen – dass man mehr Geld für einen guten Zweck gespendet hat, bessere Noten in der Schule hatte, die eigenen Kinder früher sprechen lernten. "Sich eines Mordes zu bezichtigen, den er nicht begangen hat, davon hätte der Täter doch nichts."
Am Ende rät uns Loftus, mit weiteren Menschen zu sprechen, die damals nah dran waren an Mike. Wenn er fälschlicherweise glaube, uns die Wahrheit zu sagen – dann würden unsere Versuche, etwas aus ihm herauszubekommen, ins Leere laufen. Die Erinnerungen anderer Leute aber könnten uns weiterbringen, sagt Loftus. Und in dieser Hinsicht sitzen wir auf einem wahren Schatz.
Endlich neue Spuren
Einige Tage nachdem wir mit Mike am Tatort waren, besuchen wir ihn zu Hause. Immer noch, so scheint es, will er uns unbedingt beweisen, dass er uns nicht anlügt. Dass er den Jungen wirklich angegriffen hat, auch wenn das Opfer vielleicht nicht gestorben ist. Als wir ankommen, springen zwei Welpen an uns hoch. Mike hat sie an diesem Tag aus dem Tierheim zu sich geholt. Er sagt: "Ich werde euch etwas zeigen, das euch umhauen wird."
Drinnen schleppt er einen Koffer an, dann eine Umzugskiste, weitere Kisten. Er breitet den Inhalt auf seinem Wohnzimmertisch aus und, als dort kein Platz mehr ist, auf dem Fußboden. Wir stehen in einem Meer aus Dokumenten: Gerichtsakten, Polizeiberichte, Rechnungen, Familienfotos, Aufzeichnungen aus dem Gefängnis und Hunderte Briefe, mit Gummibändern zu Bündeln gepackt wie Geldscheine in Mafiafilmen. Überall Namen, Adressen, Telefonnummern. Unmöglich, das alles jetzt und hier zu lesen, also fotografieren wir so viel ab, wie wir können. Nach mehreren Stunden verabschieden wir uns.
Monatelang werte ich die Dokumente aus, erstelle Zeitleisten und Namenslisten, kontaktiere Menschen, mit denen Mike damals zu tun hatte, darunter welche, die ihn viel besser kannten als die, mit denen wir schon über ihn gesprochen haben. Wir treffen sie später in Phoenix: zwei seiner Lehrer, seine Schwester, eine Mitschülerin, Freundinnen und Freunde – und bei diesen Gesprächen wird klar, dass Elizabeth Loftus recht hatte. Die Erinnerungen dieser Menschen helfen sehr.
Mikes Leben war voller potenziell tödlicher Gewalt
Da ist Carina, eine von Mikes damaligen Neonazi-Freundinnen. Sie ist später ausgestiegen, heute ist sie mit einem Afroamerikaner verheiratet. Damals ging sie mit Mike und den anderen auf Demos, verteilte Flyer. Vor allem aber, erzählt sie, machten sie Jagd auf Menschen, auf Schwarze – aber auch auf Weiße, die mit Schwarzen rumhingen. Manchmal sei es zu sogenannten Drive-by-Shootings gekommen. Als Frau habe sie nicht mitgedurft, aber Mike und seine Kumpels seien an den Häusern dieser Leute vorbeigefahren und hätten mit automatischen Gewehren darauf geschossen, ohne sich darum zu kümmern, was sie treffen oder wen. Über Mikes Rassismus sagt Carina: "Er hat ihn zu einem Monster gemacht."
Sie berichtet auch, der Kopf ihrer Gruppe sei Mikes damaliger Mitbewohner gewesen, ein Mann namens Tracy Hampton. Im Mai 2001, Mike saß schon im Gefängnis, betrat Hampton ein Haus in Phoenix und schoss einem weißen Mann in den Kopf, angeblich weil der ihn verraten hatte. Er ging nach nebenan, wo dessen Freundin im Bett lag, im fünften Monat schwanger, und schoss auch ihr in den Kopf. Beide starben. Später erzählte Hampton im Gefängnis herum, die Frau sei von einem Schwarzen schwanger gewesen. Hampton wartet heute in einem Todestrakt auf seine Hinrichtung. Mike hat uns gesagt, er selbst habe Glück gehabt, dass er zum Zeitpunkt der Tat schon in Haft war. "Sonst wäre ich bestimmt dabei gewesen."
Da ist auch Sean – die Nachnamen einiger Weggefährten werden hier nicht genannt, damit sie nicht erkennbar sind. Sean und Mike sind bis heute befreundet. An einem Tag im vergangenen Jahr zeigen sie uns eine Gegend, in der sie früher Drogen verkauft haben. Mike und meine Kollegin gehen einige Meter voraus, Sean und ich hinterher, da erzählt mir Sean von etwas, das für sie damals ein Spiel gewesen sei. Er nennt es das "Punktesystem". Man fuhr mit dem Auto herum, und plötzlich habe jemand zum Fahrer gesagt: "Ich gebe dir soundso viele Punkte für den da drüben." Würde der Fahrer sich trauen, diesen Menschen zu überfahren? Manchmal, sagt Sean, habe sich der Fahrer getraut. Ahnungslose Passanten auf dem Bürgersteig. Oft von hinten.
Ich sage: "Das ist einfach nur böse."
"Ja", sagt Sean. Zweimal sei er dabei gewesen. Und einmal habe Mike am Steuer gesessen. "Es war ein schwarzer Teenager, Mike fuhr auf ihn zu, boom, der Junge ist übers Auto gerollt und auf der Straße liegen geblieben."
"Was ist aus ihm geworden?"
"Ich weiß es nicht. Wir sind weitergefahren."
Als wir kurz darauf zu viert über das "Punktesystem" sprechen, bestreitet Mike, jemanden überfahren zu haben. Sean jedoch hält an seiner Geschichte fest. Er könne darauf schwören, sagt er. "Ich saß ja mit im Auto."
Dass Mikes Leben voller Gewalt war, wussten wir vorher. Jetzt wissen wir, es war voller potenziell tödlicher Gewalt. Plötzlich scheint es uns gut möglich, dass Mike nicht nur einen Menschen umgebracht hat, sondern mehrere. "Killed’m." Vielleicht doch them. Vielleicht doch Plural.
Und eigentlich hat er es selbst einmal gesagt – ohne es genau zu sagen. Wir standen am Supermarkt. Er hatte gerade bekräftigt, es könne sein, dass das Opfer den Angriff überlebt hat, als ich ihn fragte: "Ich verstehe, dass du nicht sicher bist, ob der Junge gestorben ist. Weißt du grundsätzlich, ob du je einen Menschen getötet hast?"
"Das ... dazu werde ich nichts sagen", antwortete Mike, "du bohrst und bohrst und bohrst, aber es gibt ein paar Dinge, über die will ich halt nicht ..." Er brach den Satz ab, hielt inne. "Ich habe viel echt kaputtes Zeug gemacht."
Er hätte einfach Nein sagen können.
An einem Nachmittag sitzt Mike auf der Terrasse einer Sportsbar vor einem Bier. Noch einmal frage ich ihn nach den drei Menschen, von denen er sagt, sie seien dabei gewesen an jenem Tag, als er auf den Jugendlichen einstach – die Freundin, die ihn in die Bell Road rief und dann zurückblieb, die zwei Neonazi-Kumpels, die zuschauten bei der Tat. Wieder will Mike keine Namen nennen. Ich zähle welche auf, die infrage kommen, mittlerweile habe ich einen guten Überblick. Er weicht aus, druckst herum. Schließlich nennt er mir doch einen Namen, von einem der beiden Mittäter. Mehr sagt er nicht über ihn. Es wirkt, als habe er Angst.
Dann beginnt er auf seinem Handy rumzuwischen. Zwei, drei Minuten sitzt er da, schweigend, wischend. "Das ist sie."
Er zeigt mir das Foto einer jungen Frau mit braunen Haaren und Pferdeschwanz. "Sie ist der Grund, warum das alles passiert ist." Das Mädchen, das ihn damals um Hilfe bat. Sie heiße Lisa, sagt er. Ihren Nachnamen verrät er mir nicht. "Ich will sie nicht in die Sache reinziehen." Am Abend finde ich Lisas Profil auf Facebook. Sie ist mittlerweile Anfang vierzig und hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Ich schicke ihr eine Nachricht.
Während ich auf eine Antwort von Lisa warte, beschäftige ich mich mit dem Mittäter, dessen Namen ich jetzt kenne. Ich erfahre, dass er immer noch ein Neonazi sein soll. Zu dieser Zeit kommt er nach einer jahrelangen Haftstrafe aus dem Gefängnis frei. Ich frage Mike, ob er einverstanden ist, dass ich den Mann kontaktiere, und Mike stimmt zu. Also schreibe ich dem Mann, dass ich mit ihm über seinen Jugendfreund Michael Kent sprechen möchte. Ich bekomme eine barsche Absage. Und noch etwas geschieht: Wieder bricht Mike den Kontakt zu uns ab.
Erst nach Monaten meldet er sich. Eine kurze Nachricht nur: Er rede nicht mehr mit uns, weil er bedroht worden sei. Gut möglich, dass das ein Vorwand ist. Gut möglich aber auch, dass es stimmt. Dass es mit seinem ehemaligen Kumpel zu tun hat, dem Mittäter, der gerade aus der Haft entlassen worden ist.
Die Freundin sagt: "Oh my God"
Lisa und ich haben uns an einem Starbucks verabredet. Als sie aus ihrem Auto steigt, denke ich: Sie sieht aus wie auf dem Foto, das Mike mir gezeigt hat. Wir holen uns einen Kaffee und setzen uns in einen Park nebenan. Lisa ist amerikanisch nett, aber meine Gesprächsanfragen – nach der ersten auf Facebook noch viele weitere, bis sie endlich reagierte – haben sie auch sichtlich verwirrt. Sie sagt, sie könne sich an keinen Mike Kent erinnern. Ich zeige ihr einen Brief, den ich in Mikes Unterlagen gefunden habe. Lisa hat ihn 1993 an Mike geschrieben, Teenagergeplänkel, sehr vertraut, kein Wort über die Tat.
Lisa beginnt zu lesen. "Oh my God." Sie lacht. Ja, dieser Brief sei von ihr. Ihre Augen fliegen über die Zeilen. Schließlich sagt sie: "Ich hatte das alles vergessen. Das war eine sehr traumatische Zeit in meinem Leben."
Ich bin einiges an Trauma-Erzählungen gewöhnt von dieser Recherche, aber was Lisa nun ausbreitet, verschlägt mir die Sprache. Sie erzählt, dass ihr Vater damals ins Gefängnis musste, dass ihre Mutter trank, dass sie, Lisa, mit 14 von einer Gang in der Wüste vergewaltigt wurde, dass sie abstürzte in Drogen, dass sie versuchte, sich umzubringen, dass sie eingewiesen wurde in die Psychiatrie. Das alles sei innerhalb von drei Jahren passiert, 1993 bis 1996. Drei Jahre, die quasi gelöscht seien aus ihrer Erinnerung – genau der Zeitraum, der uns interessiert.
Es gab den Vorfall, er geschah wirklich
Ich erzähle Lisa von Mikes Erinnerung. Dass sie ihn angerufen habe. Lisa hört zu. Dass Mike den Jungen am Supermarkt niedergestochen habe. Lisa steigen Tränen in die Augen. Ich denke: Jetzt kommt bei ihr doch noch die Erinnerung hoch. Doch Lisa schüttelt den Kopf. "Ich erinnere mich nicht", sagt sie. "Hat er den Jungen umgebracht?"
"Ich weiß es nicht", sage ich.
Lisa sagt, sie sei nie rassistisch gewesen. Heute schon gar nicht. Ihre Enkelkinder sind schwarz, auf Facebook postet sie gegen Rassismus. Ich merke, wie schwer die plötzliche Erkenntnis, ihretwegen könnte jemand eine rassistisch motivierte Gewalttat begangen haben, sie belastet. Sie ringt um Fassung. "Wenn das stimmt, wäre ich ja schuld daran. Gott, ich wünschte, ich könnte mich erinnern. Heute Abend werde ich so sehr beten, dass mir etwas einfällt."
Es wird ihr aber nichts mehr einfallen.
Wir rufen die Gedächtnisforscherin Elizabeth Loftus an und spielen ihr das Gespräch vor, das ich mit Lisas Einverständnis aufgezeichnet habe. Loftus’ Urteil: "Das klingt für mich schon so, als könnte Lisa das Ereignis einfach vergessen haben." Wenn sich das Ganze tatsächlich so zugetragen habe wie von Mike berichtet, Lisa also das Zustechen nicht sah, Mike und seine Freunde schnell türmten und ihr nachher nichts davon erzählten, dann könnte das Ereignis aus Lisas Perspektive sehr klein, sogar unbedeutend gewesen sein. An solche Ereignisse, gibt Loftus zu bedenken, erinnert man sich 25 Jahre später nicht mehr. Wir fügen hinzu, dass Lisa damals Drogen nahm. "Noch eine Erklärung", sagt Loftus. "Unter Drogeneinfluss werden Erinnerungen schlechter oder manchmal gar nicht abgespeichert."
Amrai Coen fragt: "Könnte das nicht auch für den Täter gelten? Der hat damals auch viele Drogen genommen."
"Oh, das ist interessant", sagt Loftus, "vielleicht hat er das Opfer mit dem Messer nur gestreift, und seine Erinnerung, von den Drogen geschwächt, hat später daraus einen blutigen Vorfall gemacht." Sie erzählt von einer Studie über Verkehrsunfälle, die ergab, dass Menschen sich Blut einbildeten, wo keines war.
Und dann kommt Elizabeth Loftus auf das zurück, was sie sich bei unserem ersten Gespräch nicht erklären konnte: Warum sollte Mikes Gedächtnis eine solche falsche Erinnerung produzieren, wenn sie ihm doch schadet? Loftus sagt jetzt: "Heute schadet sie ihm, aber damals könnte sie ihm genutzt haben. Er, der Neonazi, wurde von seinen Neonazi-Freunden wahrscheinlich desto mehr abgefeiert, je brutaler seine Tat war. Gut möglich, dass sich Mike hineingeredet hat in eine blutigere, schlimmere Version der Geschichte."
Nach dem Gespräch gehen wir noch einmal alles durch, all die Informationen, all die Interviews und Puzzlestücke, die wir in den vergangenen zweieinhalb Jahren gesammelt haben. So wie von Loftus vermutet, denken wir, könnte es tatsächlich zusammenpassen. Es gab den Vorfall, er geschah wirklich, Mike hat ihn sich nicht ausgedacht. Allerdings war er womöglich weniger brutal, als Mike heute glaubt, vielleicht sogar so alltäglich, dass er in der von Gewalt geprägten Gegend kein großes Interesse auf sich zog.
Das Opfer: zwar verletzt, ruft aber nicht die Polizei.
Lisa: vergisst das Ganze schnell.
Nur Mike, der jugendliche Neonazi, prahlt sich hinein in eine Erinnerung, die in seinem von Drogen vernebelten Gehirn abgespeichert wird als Realität – und Jahre später, nachdem er dank seiner Bewährungshelferin Tiffany Whittier draußen ist aus der Szene, beginnt diese Geschichte ihn zu verfolgen. Er kommt nicht auf die Idee, sie in Zweifel zu ziehen. Warum auch, er ist sich ja sicher, dass alles genau so war. Mikes Albträume und seine Gewissensbisse könnten also echt sein, obwohl es nie einen Mord gab. Nach allem, was wir wissen, ist das am Ende die passendste Erklärung.
Ein Brief an Mike
An unserem letzten Tag in Phoenix fahren wir raus in die Wüste, zu Mikes Haus. Ich habe ihm einen Brief geschrieben, den wir einwerfen.
Dear Mike,
es ist zweieinhalb Jahre her, dass du mir einen Mord gestanden hast. Ich kann dieses Geheimnis nicht für mich behalten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Leute mir dazu geraten haben, dich anzuzeigen. Ich habe gesagt: Nein, ich will selbst recherchieren, was passiert ist.
Jetzt wird die Geschichte veröffentlicht. Ich hoffe, dass die Familie des Opfers, wenn es sie gibt, erfährt, was genau passiert ist. Und dass sie wenigstens die Möglichkeit auf ein bisschen Gerechtigkeit bekommt. Durch eine Anzeige, eine Aussprache, eine Entschuldigung oder was auch immer ihr richtig erscheint.
Ich habe lange mit mir gerungen, aber am Ende entschieden, Tiffany von deinem Geständnis und unseren Recherchen zu erzählen. Vielleicht kannst du es dir eh denken, aber sie war nicht mal überrascht. Und sie hat gesagt, es wird nichts an eurer Freundschaft ändern.
Ein paar Fragen hätte ich dir gern noch gestellt: Ist dir Tiffany wichtig – oder genießt du einfach die Aufmerksamkeit, die du durch sie bekommst? Wenn du mit dem Geständnis dein Gewissen beruhigen wolltest: Warum hast du dich nicht an einen Priester gewandt? Und deshalb ist meine letzte Frage auch die, die ich schon am Anfang hatte: Warum hast du es mir erzählt? Warum?
Noch am Flughafen bekomme ich eine Nachricht von Mike. "Tiffany und ich werden immer Freunde bleiben. Sie hat mich zu einem besseren Menschen gemacht." Dann schreibt er, dies werde unser letzter Kontakt sein. Die Nachricht endet mit dem Satz: "Vielleicht hätte ich nie über all das reden und einfach mein beschissenes Leben weiterleben sollen."
Mitarbeit: Amrai Coen