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ZEIT am Wochenende, 25/2024: Und wie sich das Gehirn bewegt

22.06.2024, 13:09

Ein aufgeregtes Gehirn vibriert, ein wütendes wird rot: Neurochirurg Peter Vajkoczy operiert täglich das wichtigste Organ. Unsere Reporterin war bei einer OP dabei.
Interview: Jana Gioia Baurmann • Fotografie: Hannes Wiedemann 21. Juni 2024, 13:52 Uhr

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit unserem Ressort X.

Es war kühl in Saal 12. Körper und Kopf der Patientin waren mit blauen OP-Tüchern abgedeckt. Nur am Kopf war eine kleine Öffnung geblieben: Über dem Ohr war ein schmaler Streifen rasiert, mit schwarzem Filzstift war der geplante Hautschnitt angezeichnet worden, etwa zehn Zentimeter lang. Um kurz nach 15 Uhr öffnete sich die automatische Tür und Peter Vajkoczy kam herein. Der renommierte Neurochirurg und Klinikleiter der Charité deponierte Lesebrille, Handy, Schlüsselbund in eine kleine Wanne und desinfizierte sich die Hände bis hoch zum Ellenbogen. Ein Assistent legte dem 56-Jährigen einen hellblauen Umhang an. Die Latexhandschuhe zog Vajkoczy selbst über.

Die Patientin leidet unter dem Moyamoya-Syndrom, eine Erkrankung der Hirngefäße; so selten, dass die Frau extra von Dänemark nach Berlin gereist war. Die Charité ist eine der wenigen Kliniken in Europa, die diese Operation durchführt. Bei der Krankheit verengen sich Halsschlagader und ihre Hauptabgänge langsam – um weiterhin Blut transportieren zu können, bilden sich Umgehungskreisläufe aus kleinen Blutgefäßen. Auf dem MRT-Bild, das auf einem der vielen Bildschirme in Saal 12 zu sehen war, glichen die Umgehungskreisläufe einem Vulkanausbruch. Moyamoya ist Japanisch und bedeutet übersetzt Rauchwolke. Um weitere Schlaganfälle zu vermeiden, sollte die Patientin einen Bypass bekommen. Vajkoczy würde dem Blut einen neuen Weg bahnen und so die bestehende Engstelle umgehen.

Er setzte sich auf einen Praxisstuhl, runde, gepolsterte Sitzfläche, metallene Rollen, die Öffnung mit den abrasierten Haaren lag nun genau vor ihm. Ein Griff nach dem Mikroskop, das sich vor ihm befand, getragen von einem robotischen Stativ. Vajkoczy legte das Skalpell an und schnitt die Kopfhaut entlang der aufgemalten Linie auf.

Einige Stunden später, am Abend, nach der OP und einer langen Besprechung, sitzt Vajkoczy in seinem Büro im sechsten Stock des Bettenhauses der Charité; und hat endlich Zeit zu reden. Über das Gehirn, seinen Beruf, und die Operation, bei der ein Fotograf und ich ihm einige Stunden vorher zuschauen konnten. Auf einem Couchtisch liegen Bildbände von Depeche Mode, der Neurochirurg ist Fan der Band. An den Wänden Fotos seiner Töchter, in den Regalen Urkunden und Auszeichnungen. Als Vajkoczy 2007 an die Charité kam, war er – damals 39 Jahre alt – der jüngste Chefarzt der Klinik. An einer Wand lehnt ein gerahmter Badeanzug, ein Geschenk der Paralympics-Siegerin Elena Semechin. Sie hatte 2021 einen Hirntumor, den Vajkoczy entfernte.

ZEIT ONLINE: Was fasziniert Sie am Gehirn?

Vajkoczy: Als ich zum ersten Mal ein Gehirn sah, war das ein Aha-Erlebnis. Kein anderes Organ ist so ästhetisch. Wenn man sich ansieht, wie es sich im Embryo entwickelt, wie die Gefäße heranwachsen, die Fältelungen entstehen, wie es aufgebaut ist: eine hochästhetische Architektur, die Funktionen fein abgestimmt. Das Gehirn ist wie ein Fingerabdruck: einzigartig. Ich hatte heute noch eine andere Operation, da mussten wir runter an die Basis, also dorthin, wo die Nerven liegen. Zusammen mit den Gefäßen schwimmen sie in einer glasklaren Flüssigkeit, nämlich Wasser. Wenn man alles richtig macht, blutet da kaum etwas. Dass eine Operation derart sauber ablaufen kann, auch das finde ich ästhetisch. Und es riecht nicht – anders als etwa eine OP im Bauchbereich. Und wie sich das Gehirn bewegt! Gemütszustände lassen sich daran ablesen.

ZEIT ONLINE: Zum Beispiel?

Vajkoczy: Bei der Patientin vorhin haben wir es gesehen: Weil das Gehirn aufgeregt war, war es anfangs aufgeplustert, wir haben Wasser abgelassen, dann war es plötzlich entspannt. Einer meiner Mentoren, der Neurochirurg Juha Hernesniemi aus Helsinki, sagte immer, dass ein entspanntes Gehirn für die Operation am besten sei. Doch das Gehirn kann auch wütend sein, dann wird es rot. Eine Verletzung führt dazu, dass das Hirn nicht mehr ruhig vor sich hin wabert, sondern härter wird und schneller vibriert. Man merkt dann, dass es aufgeregt ist. Auf mich wirkt das jedes Mal bedrohlich, weil ein aufgeregtes Gehirn die Operation erschwert. Ist das Gehirn entspannt, bewegt es sich mit der Atmung.

ZEIT ONLINE: Wie beeinflussen die verschiedenen Gemütszustände Ihre Arbeit?

Vajkoczy: Es ist wie ein Dialog. Bei der anderen Operation, von der ich eben schon sprach, lag der Tumor dort, wo die ganzen Hirnnerven zusammenlaufen. Tief im Kopf, an der Basis des Schädels. Der vierte Hirnnerv, der dafür verantwortlich ist, dass wir mit den Augen nach unten schauen können – verletze ich den, sieht der Patient anschließend Doppelbilder. Oder der Fünfer, der dafür sorgt, dass man ein Gefühl im Gesicht hat. Treffe ich den, ist alles taub und der Patient beißt sich zum Beispiel dauernd auf die Wange. Oder der Siebener, der für die mimische Muskulatur verantwortlich ist. Fällt er aus, hängen Auge und Mund runter. Mit dem Achter hören wir und haben ein Gleichgewichtsgefühl. Neuner, Zehner und Elfer sind fürs Schlucken verantwortlich. Es ist, als stünde ich in einem Wald und muss einen Pfeil auf ein Ziel schießen, an allen Bäumen vorbei.

ZEIT ONLINE: Wie schaffen Sie das?

Vajkoczy: Es gibt unterschiedliche Techniken: Die einen gehen strukturiert vor, machen einen ersten Schritt, den zweiten und so weiter. Meine Arbeitsweise mag auf manche unstrukturiert wirken – weil ich immer versuche, mich dem Problem zu nähern, indem ich auf die aktuelle Situation eingehe. Ist das Gewebe an einer Stelle härter, biege ich beispielsweise ab.

ZEIT ONLINE: Was können Sie noch vom Gehirn ablesen?

Vajkoczy: Ich lerne etwas über den Menschen, der vor mir liegt. Nicht, ob er talentiert ist, welche Vorlieben er hat, sondern wie er lebt und sich ernährt. Ich sehe beispielsweise, ob jemand sehr viel Alkohol trinkt – dadurch nimmt die Gehirnmasse ab. Ich kann auch sehen, ob jemand raucht – dann sind die Gefäße verkalkt.

ZEIT ONLINE: Gibt es Situationen, in denen Sie das Gehirn mit den Fingern berühren?

Vajkoczy: Selten. Weil es nicht das eleganteste Manöver ist. Aber manchmal kann es sinnvoll sein: etwa, wenn ich wissen möchte, wie stark das Gehirn geschwollen ist. Aber wie gesagt: In der Regel mache ich alles mit den OP-Instrumenten.

"Der Weg durch die Nase ist sehr elegant, weil man nichts öffnen muss"

Einige Stunden zuvor hatte Vajkoczy vor der Frau gesessen und sich seine Brille reichen lassen, während er, nach dem ersten Schnitt, bereits auf die Schichten der Kopfschwarte blickte. Ein Assistent setzte ihm die Lesebrille auf die Nase. "Schere, bitte", sagte Vajkoczy. Um den Schädel öffnen zu können, schnitt er ganz vorsichtig den Kaumuskel an. Anschließend bohrte er den Schädel auf, mit einem Geräusch wie beim Zahnarzt. Vajkoczy hielt ein kreisrundes Stück Knochen in der Hand, vielleicht zwei Zentimeter im Durchmesser, das in ein steriles Metallschälchen kam. Der Weg zum Gehirn war frei. "Noch mal Spülung, bitte." Das Nervenwasser, rötlich eingefärbt durch Blut, sollte weg. Die Sicht musste klar sein. Zurück ans Mikroskop, dann war die Hirnhaut dran. Zuerst die äußere Schicht, die sogenannte Dura mater. Darunter folgt die Arachnoidea, die Spinnengewebshaut, die bläulich schimmert. Anschließend die letzte Hautschicht, die Pia mater. Das Gehirn darunter war aufgewölbt. Um den Druck zu reduzieren, bat Vajkoczy erneut darum, Nervenwasser abzusaugen. Die Wölbung verschwand. "Jetzt hat es Dampf abgelassen."

Um einen Bypass zu legen, musste Vajkoczy Gefäße mit einem Durchmesser von einem Millimeter miteinander vernähen. Vajkoczy markierte das Hauptgefäß mit einem feinen Filzstift, bevor er es mit zwei Clips abklemmte. Anschließend, als kein Blut mehr durchfloss, sah er es nur noch dank des Striches; das leere Gefäß wäre – inmitten des anderen Gewebes – sonst nicht mehr zu erkennen gewesen. Der Anästhesist erhöhte die Sauerstoffzufuhr über das Beatmungsgerät. Die Sauerstoffmenge im Blut sollte ansteigen, um so die reduzierte Durchblutung zu kompensieren. Um ausreichend mit Sauerstoff versorgt zu sein, benötigt das Gehirn pro Minute 750 Milliliter Blut.

Vajkoczy fing an zu nähen. Klassisch, mit Nadel und Faden. Die Nadel: gebogen, wie ein Angelhaken. Der Faden: aus Nylon, nur 0,04 Millimeter dünn. Nadel und Faden hielt Vajkoczy nicht mit den Fingern, sondern mit OP-Instrumenten. Er hatte nun 30 Minuten, um den Bypass zu legen. Danach brauchte das Gehirn wieder mehr Blut, mehr Sauerstoff, sonst würde es unwiederbringlich Schaden nehmen.

ZEIT ONLINE: Trainieren Sie, um mit beiden Händen gleich gut zu sein?

Vajkoczy: Ich kenne japanische Kollegen, die als Rechtshänder bewusst die Essstäbchen mit links benutzen. So konsequent bin ich nicht. Die OPs sind mein Training: Jedes Mal versuche ich, mit beiden Händen gleichermaßen zu arbeiten. Aber meine linke Hand ist nicht so gut wie meine rechte.

ZEIT ONLINE: Wie lange muss man üben, bevor man am Gehirn operieren darf?

Vajkoczy: Als Assistenzarzt schaut man einfach zu. Anschließend darf man einzelne Schritte übernehmen. Zugänge und verschiedenen Knochenöffnungen mit der Säge beherrscht man im zweiten oder dritten Jahr. Gefäßverbindungen konnte ich allerdings erst nach zehn Jahren nähen. Davor habe ich an Plastikschläuchen und präparierten Leichen geübt, wieder und wieder. Dann durfte ich unter Aufsicht am Patienten nähen.

ZEIT ONLINE: Ich war vorhin überrascht, wie wenig Stiche es braucht. Zwölf habe ich gezählt.

Vajkoczy: Auf einer Länge von 1,5 Millimetern ist das doch ganz schön viel!

ZEIT ONLINE: Sie haben nach jedem Stich abgesetzt und die Fäden verknotet, dann wieder neu angesetzt. Warum haben Sie keine durchgehende Naht gesetzt?

Vajkoczy: Weil man so präziser näht. Eine fortlaufende Naht geht schneller – die mache ich auch –, aber wenn ich einen Fehler mache, muss ich die ganze Naht aufmachen und wieder von vorne anfangen. Schneller zu sein, birgt also ein Risiko. Das wollte ich vorhin nicht eingehen.

ZEIT ONLINE: Welche Art von Operation machen Sie am häufigsten?

Vajkoczy: Als ich vor 17 Jahren an die Charité kam, waren schwierige Gefäßoperationen wie die vorhin bei der Moyamoya-Patientin mein Schwerpunkt. Ich wollte mich aber weiterentwickeln. Inzwischen habe ich auch eine Begeisterung für die Wirbelsäule entwickelt und operiere hier das gesamte Spektrum, vom Bandscheibenvorfall bis hin zu komplexen Tumoren oder Fehlstellungen. Im Kopf behandle ich aber immer noch Gefäße oder auch Tumore.

ZEIT ONLINE: Leiden Sie sehr darunter, eine Brille zu brauchen?

Vajkoczy: Ja, das nervt mich schon ein bisschen. Also es ist ja eine Lesebrille, die ich nicht brauche, wenn ich am Mikroskop arbeite. Deswegen würde ich mir auch nie extra eine beim Optiker anfertigen lassen, sondern kaufe mir immer eine im Drogeriemarkt. 2,0-Stärke für 3,95 Euro.

ZEIT ONLINE: Die meisten Menschen kennen das Gehirn nur von Abbildungen, oft wird es – was Struktur und symmetrischer Aufbau angeht – mit einer Walnuss verglichen. Welche Vorteile hat diese Oberfläche?

Vajkoczy: Durch die vielen Furchen ist sie größer und es lassen sich mehr Funktionen unterbringen. Wenn der Mensch weniger davon bräuchte, würde eine Bowlingkugel ausreichen. Die äußere Hülle, Neokortex genannt, hat sich im Laufe der Evolution immer weiterentwickelt. Der Hirnstamm, das Innere, also dort, wo Thalamus – auch Tor zum Bewusstsein genannt – und das limbische System liegen, ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt. Zum Beispiel der Fluchtreflex: Da funktioniert unser Gehirn genauso wie vor 20.000 Jahren. Eigenschaften wie Motorik oder Sensibilität wurden mit der Zeit immer weiter verfeinert und das brauchte Platz. Für uns, die operieren, ist die Oberfläche nützlich: Die Furchen können wir als Wege nutzen, um zu unserem Ziel zu kommen. Und müssen nicht direkt durchs Hirn. Für uns ist das ein Segen.

ZEIT ONLINE: Also ist das menschliche Gehirn wie ein Schloss, das über die Jahrtausende um eine Hütte entstanden ist – nur dass die Hütte nie abgerissen wurde?

Vajkoczy: Ja, genau.

ZEIT ONLINE: Ließe sich darüber noch ein Megapalast errichten, um noch mehr Funktionen unterzubringen?

Vajkoczy: Dafür müsste aber der Kopf größer werden. Wenn es nicht etwas extrem Disruptives gibt, beispielsweise eine andere Kopfform, ist der Entwicklung eine gewisse Grenze gesetzt. Außerdem wäre es ein solch großer evolutionsbiologischer Schritt, dass wir das Ergebnis erst weit in der Zukunft sehen würden. Es hat ja auch zwei Millionen Jahre gedauert, dass das menschliche Gehirn derart gewachsen ist.

ZEIT ONLINE: Im alten Ägypten wurde das Gehirn vor einer Mumifizierung mit einem Eisenhaken durch die Nasenlöcher entfernt – wie passt das da durch?

Vajkoczy: Ja, durch die Nase kommt man an die Hirnbasis. Auch wir nutzen diesen Zugang manchmal: wenn Tumore nicht seitlich überm Auge liegen, sondern unten an der Basis. Der Weg durch die Nase ist sehr elegant, weil man nichts öffnen muss und später äußerlich keine Narben sichtbar sind. Drinnen wird dann schon einiges angerichtet, aber das lässt sich wieder zurechtrücken. Wenn man wie früher grob durchgehen würde, also mit so einem Haken, lässt sich alles rausholen. Vor allem, wenn sich das Gehirn schon aufgelöst hat.

ZEIT ONLINE: Aufgelöst?

Vajkoczy: Wenn jemand verstorben ist und bei Raumtemperatur lange gelegen hat, verflüssigt sich das Gehirn. Es besteht ja zu 70 Prozent aus Wasser, weswegen es auch so leicht anschwillt. So verflüssigt kann man es leicht durch die Nase rausholen.

ZEIT ONLINE: In der Antike galt das Herz als wichtigstes Organ, als Zentrum des Körpers – das Gehirn wurde dagegen abschätzig behandelt. Von Aristoteles heißt es: "Das Gehirn enthält kein Blut, besitzt keine Empfindungen, ist der kälteste Teil des Körpers und dient dazu, die Wärme des Menschen zu mäßigen."

Vajkoczy: Zumindest was den Schmerz betrifft, hatte er recht – deswegen können wir auch Wach-OPs durchführen, bei denen die Patienten bei Bewusstsein sind. Sie spüren dabei aber keine Manipulation am Hirn. Es tut ihnen nicht weh. Nur die Hirnhaut, die harte, die ist sehr schmerzempfindlich.

ZEIT ONLINE: Aber wenn ich irgendwo Schmerz verspüre, ist es das Gehirn, das mir diesen Schmerz mitteilt.

Vajkoczy: Wenn Sie sich beispielsweise den Fuß stoßen, gibt es spezielle Bahnen im Rückenmark. Die Information wird über Nerven ans Hirn weitergeleitet. Die Verschaltung, dass Sie Schmerz als Schmerz empfinden, passiert wahrscheinlich im Thalamus. Bei Patienten, die chronische Schmerzen haben, versuchen wir, diesen Informationsfluss zu stören. Der Schmerz ist weiterhin da, kommt aber im Gehirn nicht an. Und die Patienten fühlen keinen Schmerz.

ZEIT ONLINE: Weil Sie eben "wahrscheinlich" sagten – wie genau kennen Sie das menschliche Gehirn?

Vajkoczy: Die Forschung ist weit davon entfernt, das Gehirn als Ganzes zu begreifen. Bei 15 bis 20 Prozent des Hirns wissen wir, welche Funktionen sie haben. Früher war ein Neurochirurg froh, wenn der Patient nach einer Operation noch gesprochen hat und sich bewegen konnte. Heute fragt man Patienten anschließend, ob sie einen Tagesablauf in die richtige Reihenfolge bringen können: also zuerst Brötchen holen, dann frühstücken und so weiter. Die richtige Reihenfolge ist eine höhere neurokognitive Funktion.

ZEIT ONLINE: Was testen Sie heute noch?

Vajkoczy: Bei Wach-OPs, die wir seit Jahren regelmäßig durchführen, gibt es spezielle Tests. Wir sprechen mit den Patienten und können so herausfinden, ob höhere Funktionen weiter vorhanden sind.

ZEIT ONLINE: Was wird da zum Beispiel gefragt?

Vajkoczy: Dem Patienten wird beispielsweise ein Bild mit einer rennenden Person darauf gezeigt – und er wird gebeten, dieses Bild zu beschreiben. Sucht der Patient nach einem Wort oder bringt Begriffe durcheinander, wissen wir, dass wir gerade an einer Stelle im Kopf sind, die wichtig ist für die Sprache. Wir verstehen immer besser, welcher Teil des Gehirns für welche Funktion zuständig ist. Diese Erkenntnis wird wiederum unsere Möglichkeiten und unsere Furchtlosigkeit einschränken. Eines Tages wird es vielleicht so sein, dass jedes noch so kleine Teilchen wichtig ist.

"Ich versuche, eher Han Solo zu sein"

ZEIT ONLINE: Sie haben ein Buch über Ihre Arbeit geschrieben, darin bezeichnen Sie Tumore als "Ungeheuer", die bei jedem Patienten anders seien. Wie ist der Moment, wenn Sie zum ersten Mal den Tumor sehen?

Vajkoczy: Das ist wie beim Tennis: Sie gehen auf den Platz und schauen sich den Gegner beim Warmspielen an. Da gibt es diejenigen, die immer gerade und flach übers Netz schlagen. Oder solche, die gerne und viel hohe Bälle spielen. Oder bevorzugt einen Slice, einen Ball mit Rückwärtsdrall. Das ist ein schwieriger Gegner. Genauso läuft es bei einer Operation: Ein Tumor, der weich ist, der nicht stark blutet, der nicht die Umgebung infiltriert hat, ist ein leichter Gegner. Ein weicher Tumor lässt sich gut absaugen und wenn die Grenzen klar sind, kann man den schön entfernen.

ZEIT ONLINE: Und der schwierige Gegner?

Vajkoczy: Das ist ein harter Tumor, der sich nicht absaugen lässt. Ein harter Tumor muss entkernt werden, anschließend schlägt man die Ränder ein und entfernt ihn. Ich muss also erst mal Stück für Stück aus dem Inneren des Tumors rausschneiden. Das ist mühsam. Wenn es dann noch stark blutet und man kommt nicht richtig voran, wird es unübersichtlich. Und wenn der Tumor dann noch wichtige Hirnareale infiltriert hat, wenn er etwa am Hirnstamm klebt und ich ihn nicht abtrennen kann, ziehen muss, dabei vielleicht Gefäße verletze, was wiederum kleine Schlaganfälle auslösen kann, dann ist es ein richtig schweres Spiel.

ZEIT ONLINE: Sie haben Tennis gespielt, waren Leistungssportler. Wie sehr hat Ihnen das für Ihren heutigen Job geholfen?

Vajkoczy: Der Sport hat mir total geholfen. Wenn ich durchs Mikroskop schaue, stehe ich wie im Tennis allein zwischen den Linien und muss Konzentration und Nerven bewahren. Und wenn es drauf ankommt, muss ich lange durchhalten: So wie ein Tennis-Match fünf Stunden dauern kann, brauchen auch manche Operationen länger. Manchmal stehe ich zehn Stunden im OP. Wenn man jünger ist und weniger Erfahrung hat, wird man gegen denjenigen, der immer einen flachen Slice spielt, die Geduld verlieren – und verliert das Spiel. So ist das leider auch als Neurochirurg. Wenn ich ungeduldig werden würde, passiert es leichter, dass ich beispielsweise Gewebe verletze.

Bei der OP an der dänischen Patientin mit dem Moyamoya-Syndrom hatte Vajkoczy es innerhalb von 20 Minuten geschafft, den Bypass zu legen. Anschließend musste er aber noch prüfen, ob die frisch vernähte Stelle an den Gefäßen dicht war. Er entfernte die Clips, die die Blutzufuhr gestoppt hatten – das Blut floss wieder. Und es zeigte sich: Ein kleines Loch war geblieben. Durch eine Naht drang noch ein wenig Blut. Vajkoczy musste noch mal nähen. Dann, nach wenigen Minuten, passte es. Fertig war er damit noch nicht. Der Raum wurde abgedunkelt, um den Bildschirm besser zu sehen. Ein Assistent spritzte einen Fluoreszenzfarbstoff ins Blut. Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie der Farbstoff in den Gefäßen anflutete – was bestätigte, dass die Gefäßverbindung offen und durchgängig war. Funktionstüchtig also.

Vajkoczy sagte: "Das Gehirn hat rosa Backen gekriegt, mehr Teint." Er klappte die Hirnhautschichten wieder zusammen und legte ein Zelluloseschwämmchen drauf. Die Wunde vernähte er bei dieser Patientin nicht extra. Musste nicht sein. Es würde von allein zusammenwachsen. Schließlich kam das desinfizierte Schädeldeckenstück drauf. Vajkoczy fixierte es an zwei Stellen mit einem einfachen Klickmechanismus. "Schade, dass ich das nicht erfunden habe", murmelte er.

ZEIT ONLINE: Was hätten Sie gerne erfunden?

Vajkoczy: Etwas Disruptives, einen practice changer. Dieser Klickmechanismus zum Beispiel ist so cool. Früher hat man das Stück Schädeldecke entweder angenäht, was schon sehr umständlich war, oder es gab so Miniplatten, deren Schrauben man mit einer Drogeriebrille, wie ich sie habe, schlecht sieht. Und jetzt: klack, klack, klack. Intuitiv. Genial. Eine einfache Erfindung, die einen riesigen Unterschied macht. Jedes Mal, wenn ich sie benutze, ärgere ich mich, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Aber ich habe ja noch ein paar Jahre Zeit.

ZEIT ONLINE: Wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?

Vajkoczy: Um 4.50 Uhr. Um sechs Uhr hatte ich Labormeeting. Ein Teil meiner Arbeit ist die Forschung und dafür treffe ich mich regelmäßig mit Arbeitsgruppen. Heute früh waren es tatsächlich Kollegen, die sich mit Moyamoya beschäftigen, die Gefäßerkrankung der Patientin vorhin. Uns geht es um gefäßbiologische Fragen: Wie kommt es zu diesem Gefäßwachstum? Und was führt bei jungen Patienten wie ihr dazu, dass die Gefäße verschließen? Wer so viel operiert wie wir, davon bin ich überzeugt, ist gewissermaßen verpflichtet, das Krankheitsbild auch zu erforschen. Von 7.00 bis 7.30 Uhr mache ich Visite, anschließend haben wir Morgenbesprechung. Von 8.00 bis 8.30 Uhr kümmere ich mich um ein paar ambulante Patienten. Um 8.45 Uhr beginnt die erste Operation. Und dann folgt die nächste. Und so weiter.

ZEIT ONLINE: Machen Sie Pausen?

Vajkoczy: Um mal an einer Brezel abzubeißen oder einen Espresso zu trinken. Ich gehe aber nie Mittagessen. Abends esse ich dann mit der Familie warm.

ZEIT ONLINE: Das Gehirn arbeitet ununterbrochen – auch wenn wir schlafen. Was passiert da?

Vajkoczy: Wir träumen doch! Aber in welchem Bereich Traumbilder verarbeitet werden? Wo diese Bilder entstehen? Ich weiß es nicht.

ZEIT ONLINE: Träumen Sie von der Arbeit?

Vajkoczy: Ich träume regelmäßig schlecht, weil ich viel zu verarbeiten habe. Wenn ich zehn bis zwölf Stunden operiert habe und es viel geblutet hat, träume ich anschließend davon, in Blut zu schwimmen. Und fast unterzugehen. Anders als früher wache ich allerdings nicht mehr schweißgebadet auf. Aber meine Arbeit wirkt sich immer auf meinen Schlaf aus. Wenn ich beispielsweise einen Fehler gemacht habe, wenn es Komplikation gab, wenn ich jemanden verloren habe, schlafe ich schlecht. Manchmal passieren Fehler auch in Serie, das nimmt mich dann sehr mit.

ZEIT ONLINE: Wie legen Sie dieses Gefühl des Mitgenommenseins wieder ab?

Vajkoczy: Früher dachte ich: Wenn ich lange genug im Job bin, werde ich cooler. Aber mit 50 musste ich feststellen, dass das nicht so ist. Es berührt mich weiterhin jedes Mal. Ich habe auch mal ein Coaching gemacht und gelernt, sich auch an das Positive zu erinnern. Wenn es dreimal schlecht läuft, erinnere ich mich aktiv an etwas Gutes. An einen Eingriff, den ich gut hinbekommen habe. Dazu kommt, dass sich viele Patienten erholen – die Plastizität des Gehirns, also die Fähigkeit zur Regeneration, ist enorm. Und ich versuche herauszubekommen, was falsch gelaufen ist. Aus meinen Fehlern zu lernen. Dann hat das Schlechte wenigstens ein bisschen was gebracht. Und schließlich mache ich einfach weiter. Dann kommt auch wieder eine gute Serie.

ZEIT ONLINE: Wenn Sie eine negative Serie haben: Entscheiden Sie sich dann bewusst eher für eine Standardoperation, also etwas Einfaches?

Vajkoczy: Früher, wenn es zweimal schiefgegangen war, ertappte ich mich dabei, diese Art von Operation vorerst nicht mehr zu machen. Zu riskant, entschied ich. Die Psychologie der Entscheidungsfindung ist sehr interessant: Wenn die letzten fünf Operationen super gelaufen sind, ist man bereiter, einen risikoreichen Eingriff zu übernehmen. Wenn sie schlecht liefen, entscheidet man anders. Doch wenn ich beschließe, eine Operation nicht zu machen, werden sowohl der Patient als auch ich bestraft.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Vajkoczy: Etwas nicht zu machen, hat Konsequenzen, für die ich mich verantwortlich fühle. Wenn ich beispielsweise ein Aneurysma, also eine Arterienerweiterung, nicht operieren will, kommt die Person vielleicht ein paar Wochen später blutend hier eingefahren.

ZEIT ONLINE: Wie oft passiert das?

Vajkoczy: Dass ein Aneurysma blutet, kommt selten vor. Hier in Berlin platzen ungefähr 400 Aneurysmen pro Jahr, die versorgt werden müssen. Dazu kommen die Aneurysmen, die zufällig entdeckt werden und wo entschieden werden muss: Behandelt man sie, um einer zukünftigen, möglichen Blutung vorzubeugen? Patienten, die hierherkommen, haben schon die Meinungen anderer Ärzte dazu gehört. Manche entscheiden anders als ich – obwohl die Daten gleich sind und die Kollegen die gleiche Literatur lesen. Es ist eine Mentalitätsfrage: Ist man eher der Yoda-Typ, der abwartet und weise ist? Und ein Aneurysma nicht operiert? Oder mehr der Han-Solo-Typ, also ein Draufgänger, der die Herausforderung sucht? Und, um bei dem Beispiel mit dem Aneurysma zu bleiben, sich für einen Eingriff entscheidet.

ZEIT ONLINE: Welcher Typ sind Sie?

Vajkoczy: Ich versuche, eher Han Solo zu sein – aber ohne draufgängerisch zu sein! Angstfrei bin ich nämlich nicht.

ZEIT ONLINE: Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass der Körper verwest und die Seele zu einem Gott aufsteigt. Wie sehen Sie das?

Vajkoczy: Ich habe keine gute Antwort darauf. Ich würde auch gern beweisen, dass die Seele im Gehirn ist. Wie ich das anstellen soll, weiß ich allerdings noch nicht. Bislang habe ich die Seele noch nie gesehen.

In seinem Buch zitiert Vajkoczy einen amerikanischen Kollegen: Die Neurochirurgie sei ein Pakt zwischen dem Allerschönsten und dem Allerschrecklichsten. Die erste Operation des Tages sei so eine gewesen, ein schrecklicher Eingriff. Die Frau musste am Rückenmark operiert werden. Man hatte sie bereits zuvor in einem anderen Krankenhaus unters Messer gelegt. Danach hatte sich ihre Wunde infiziert. Alles war voll mit Eiter. Der Eingriff war schwer, unübersichtlich, sehr herausfordernd.

Die Operation der Moyamoya-Patientin danach sei dagegen "einfach schön" gewesen, sagt er. "Ästhetisch." In Saal 12, als ich Peter Vajkoczy beobachten konnte, sah ich einen kleinen Ausschnitt eines Gehirns. Auf dem Bildschirm, über den ich den Eingriff verfolgen konnte, wirkte es wie ein abstraktes Gemälde. Ich sah die Symmetrie, die unser Gehirn ausmacht. Die satten Farben der Gefäße. Ich sah Eleganz. Und ich sah einen Mann, der mit vorsichtigen Bewegungen versuchte, einen winzigen, kleinen Makel zu beheben – in etwas, das sonst ein Gebilde von unglaublicher Perfektion war.

Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 25/2024.
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