Wo liegen die Grenzen unseres Wissens?
Eine Kolumne von Robert Gast
Physiker und ZEIT-Redakteur
Liebe Leserin, lieber Leser,
es gab Zeiten, in denen ich nicht Journalist, sondern Wissenschaftler werden wollte. Wieso es am Ende nicht so gekommen ist, hat mit einem Spaziergang durch die armenische Hauptstadt Jerewan zu tun. Ich war dort 2009 während meiner Diplomarbeit auf einer Fachkonferenz. Und an einem vortragsfreien Morgen flanierte ich mit einem etwas älteren Kollegen durch die Straßen, tief verstrickt in eine Diskussion darüber, wie weit wir Physiker eigentlich sind, die großen Fragen des Universums zu beantworten.
Der Forscherkollege vertrat dabei eine andere Position als ich. Die Physik, sagte er sinngemäß, sei doch kurz davor, alles erklären zu können. Schließlich könnten mathematische Formeln fast alles in unserer Alltagswelt und im Mikrokosmos der Elementarteilchen beschreiben. Und mit der Stringtheorie gebe es einen vielversprechenden Entwurf für eine Weltformel, die alle physikalischen Phänomene auf wenige elegante Prinzipien zurückführen könne, so wie Albert Einstein es sich einst erträumt hatte.
Aufgebracht hielt ich Gegenrede. Ich war damals geradezu besessen von dem Gedanken, dass wir Menschen im Grunde gar nichts sicher wissen können. Dieser Eindruck hatte sich bei mir in einem Philosophieseminar zur Erkenntnistheorie festgesetzt, das ich parallel zu meinem Physikstudium besucht hatte. Dort lernte ich, wie viele Annahmen man trifft, wenn man behauptet, etwas zu wissen.
Sehen wir bloß einen Schatten der Realität?
Denn: Wer sagt uns, dass das, was wir sehen, objektiv wahr ist? Vielleicht sehen wir in Wahrheit bloß einen unscharfen Schatten der Wirklichkeit – wohingegen die eigentliche Realität unseren Sinnen verborgen bleibt, wie Platon in seinem Höhlengleichnis vermutete. Oder auch: Kann die Sprache, die wir verwenden, sei es nun Altgriechisch, Deutsch oder die Mathematik, die Realität überhaupt genau abbilden? Oder nähern wir uns ihr damit bloß an, unfähig, den Kern der Dinge zu erfassen?
Von solchen Einwänden inspiriert argumentierte ich, dass wir Menschen wohl nie in der Lage sein werden, die letzten Wahrheiten zu ergründen. Vielmehr müsste es doch eine Grenze der Erkenntnis geben. Einen Stand des Wissens also, ab dem unser Verstand und unsere technischen Möglichkeiten nicht mehr ausreichen, um die Welt noch besser zu verstehen, also aus den Schatten, die wir sehen, auf die Wirklichkeit dahinter zu schließen. Und womöglich, entgegnete ich meinem Kollegen damals, haben wir diese Grenze in der Physik bereits erreicht.
Schließlich bauen Forschende seit Jahrzehnten immer bessere Teleskope. Immer größere Teilchenbeschleuniger, um wie mit einem Mikroskop immer kleinere Strukturen im Inneren der Materie sichtbar zu machen. Ein experimenteller Test von Ideen wie der Stringtheorie ist trotzdem nicht in Sicht, und wird es laut Kritikern vielleicht nie sein. Und auch mathematisch und konzeptionell sind viele Fragen der modernen Physik so kompliziert, dass nur wenige hochbegabte Spezialisten sie überhaupt noch verstehen können.
Mein Forscherkollege fand all das verkopft und übermäßig skeptisch – was mich wiederum darin bestärkte, Physiker wie ihn für unreflektiert und blind gegenüber den Schwächen der eigenen Disziplin zu halten. Rückblickend war das einer der Gründe, weshalb ich nach der Diplomarbeit der Forschung den Rücken kehrte. (Ein anderer war das Thema meiner Diplomarbeit, in der ich die Genauigkeit der Software eines Teleskopprojekts testen musste – was in etwa so langweilig war, wie es klingt.)
Heute sehe ich die Debatte um die Grenzen des Wissens mit anderen Augen. Blinde Wissenschaftsgläubigkeit, die die Grenzen von Laborstudien außer Acht lässt, finde ich noch immer problematisch. Aber gleichzeitig ist mir die radikale Skepsis, die ich 2009 vertrat, rückblickend fast peinlich. Schließlich kann man sie leicht gegen jedwede Wissenschaft wenden, nach dem Motto: Wenn wir nichts sicher wissen können, können wir uns das mit der Forschung ja gleich sparen, oder?
Wenn der Aufwand für neue Erkenntnisse zu groß wird
Das ist natürlich Quatsch. Denn trotz aller Schwächen und Fehlanreize im heutigen Wissenschaftssystems bleibt professionell organisierte Forschung das wohl mächtigste Werkzeug unserer Zivilisation. Die beste Methode, sich der Wirklichkeit anzunähern. Ohne Wissenschaft wüssten wir weder, dass wir auf einem unbedeutenden Planeten am Rande einer gewöhnlichen Galaxie durchs All treiben, 13,8 Milliarden Jahre nach dem Urknall. Noch gäbe es Impfstoffe und Krebsmedikamente, Smartphones und Elektrizitätsnetze, Wettervorhersagen und Klimasatelliten.
Das ist mir heute bewusster als noch vor 15 Jahren. Wohl auch, weil ich als Wissenschaftsjournalist Einblicke in viele Forschungsprojekte erhalten habe. Immer wieder war ich verblüfft dabei, wie viele Jahrzehnte die Grundlagen zurückreichen, wie viele Menschen an Entdeckungen beteiligt sind. Mehr noch: Jede Behauptung wird von Forschenden mit unterschiedlichen Herkünften, Überzeugungen, Sprachen und Vorannahmen auf die Probe gestellt – mit Fachgutachten, neuen Experimenten, kritischen Nachfragen. Was sich in diesem System als experimentell bestätigter Konsens bewährt, ist so nah an der Wahrheit, wie Menschen ihr nur kommen können.
All das, denke ich heute, relativiert viele der erkenntnistheoretischen Zweifel, die mich als Student umtrieben. Kann ein System, das so erfolgreich ist, wirklich auf wackeligem Fundament stehen? Und das wegen abstrakter Einwände wie Platons Höhlengleichnis, für das es keinerlei konkrete Hinweise gibt? Oder ist es nicht eher andersrum: So weit von der Wahrheit entfernt können Quantenphysik und Relativitätstheorie nicht sein, wenn sie uns komplexe Technologien wie Smartphones und Satellitennavigation ermöglichen, oder?
Zweifler an die Macht
Eine andere Sorge von damals treibt mich hingegen immer noch um. Wer an einem der modernen Wissensgebäude in Physik, Chemie, Biologie, Mathematik oder einer anderen Disziplin mitbauen will, braucht es ohne fünfjähriges Studium plus ähnlich langer Promotion gar nicht erst versuchen, so viel Grund- und Methodenwissen ist nötig. Und selbst damit kann man höchstens darauf hoffen, irgendwo weit, weit oben in dem Bauwerk einen kleinen neuen Stein einfügen. Allerdings nicht allein, sondern stets als Teil eines Teams.
Entsprechend aufwendig ist es, überhaupt noch große wissenschaftliche Fortschritte zu erzielen. Ohne Heerscharen bestens ausgebildeter Spezialisten und teurer Großgeräte geht es zumindest in Physik und Astronomie nicht mehr. Sollte man dort irgendwann an den noch offenen Fragen verzweifeln, dann wohl deshalb: Weil Aufwand und Ertrag in keinem guten Verhältnis mehr stehen – und letztlich niemand mehr bereit ist, für weitere Forschung zu zahlen.
Die Frage ist, ob Menschen erkennen können, wenn sie diesen Punkt erreicht haben. Das Universum verschickt leider keine E-Mails mit dem Betreff "Stringtheorie – besser nicht weiterforschen". Gefragt sind daher die Forschenden selbst. Von denen manche, so hoffe ich, vielleicht auch einmal in ihrem Leben mit Erkenntnistheorie in Kontakt gekommen sind.
Nicht, weil sie danach an Platons Höhlengleichnis glauben müssen. Nicht, weil Fundamentalskepsis, wie ich sie als Student vor mir hertrug, irgendwie hilfreich wäre. Sondern weil gesundes Zweifeln, wie es die Philosophie lehrt, zur Forschung nun einmal dazugehören sollte. Zum einen, weil es unredlich wäre, absolute Sicherheit vorzugeben, wenn man sie nicht erreichen kann. Zum anderen, weil das stetige Grübeln, ob man nicht doch falschliegt, wohl das ist, was Wissenschaft so erfolgreich gemacht hat.
Und wer weiß: Vielleicht führt es eines Tages zu der Einsicht, dass Menschen bei mancher großen Frage des Universums mit vertretbarem Aufwand einfach nicht mehr weiterkommen. So ehrlich mit sich selbst und der Welt sollten Wissenschaftler, bei all ihren Erfolgen, am Ende sein.