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In Frieden sterben

Das Leben ist eine bunte Kiste!

In Frieden sterben

Beitragvon Hübi » 27.12.2024, 11:19

In Frieden sterben


Eine Kolumne von Gian Domenico Borasio Palliativmediziner und Autor

Liebe Leserin, lieber Leser, das Jahr geht zu Ende. Zeit zum Innehalten und in uns hineinhören. Die Metapher des alten und neuen Jahres, des Werdens und Vergehens, erinnert uns unter anderem daran, dass irgendwann auch für uns der große Abschied bevorsteht. Vielleicht früher, als wir denken.

Wenn ich die Medizinstudenten bei der Vorlesung im ersten Semester mit der Frage überrascht habe "Wie möchten Sie sterben?" (keine einfache Frage für 18- bis 19-Jährige) kristallisierten sich aus ihren Antworten regelmäßig zwei Themen heraus: schmerzlos sterben und in Frieden sterben. Das Erste kann man einigermaßen gut definieren, beim Zweiten wird's schwieriger. "In Frieden" sterben, was bedeutet das? Und wie kriegt man's hin?

Auf Nachfrage sagten die Studenten, es gehe darum, in Frieden mit den Mitmenschen, insbesondere den Nahestehenden, Abschied zu nehmen. Eine weitere Antwort war, zufrieden auf das eigene Leben zurückblicken zu können. Und einige Studenten äußerten den Wunsch, in Frieden "mit Gott und sich selbst" zu sterben.

Bei diesen Worten fallen mir immer wieder zwei Patienten ein, die ich am Lebensende begleiten durfte und die für mich wichtige Lehrer waren. Der erste Patient litt an Amyotropher Lateralsklerose, einer schweren und fortschreitenden Lähmungserkrankung, die innerhalb von circa drei Jahren zum Tod durch Ateminsuffizienz führt. Er war ein angesehener Industriemanager und überraschte uns eines Tages alle mit der Aussage, dass er seine aktuelle Lebensqualität als besser einschätzte als vor der Erkrankung. Ursache dafür war, dass er sich nach dem Diagnoseschock auf Anraten eines Freundes der Meditation zugewandt hatte, und das hatte seinen Blick auf das Leben komplett verändert: "Früher war ich erfolgreich, aber gehetzt und gestresst. Jetzt habe ich viel Zeit und habe vor allem gelernt, in diesem Jetzt zu leben, in jedem Augenblick einfach da zu sein."

Dem zweiten Patienten begegnete ich auf der Palliativstation in Lausanne. Er kam aus dem Iran und fiel sofort durch seine Freundlichkeit und Abgeklärtheit angesichts seiner tödlichen Krebserkrankung auf. Im Gespräch erwähnte er eher beiläufig, dass er ein Sufi sei. Die Sufis sind islamische Mystiker. Ziel ihrer spirituellen Praxis ist die Auflösung des Egos und die Vereinigung mit Gott, dem Geliebten, und zwar noch in dieser Welt. Ich fragte ihn, ob er dem ganzen Palliativteam etwas über den Sufismus und seine Bedeutung angesichts schwerer Krankheit erzählen könnte, und er willigte ein. Es war für alle, die dabei sein durften, eine prägende Erfahrung – und es ging wieder um die Fähigkeit, ganz im gegenwärtigen Augenblick zu leben und seine Kostbarkeit zu genießen.

Beide Patienten waren wahrhaftig in Frieden mit sich, mit der Welt und mit dem, was sie als höchstes Wesen empfanden. Sie kamen aus unterschiedlichen Kulturen und Horizonten, aber ihre Aussagen waren fast deckungsgleich. Dasselbe findet man, wenn man die Schriften der Mystiker in den verschiedenen Weltreligionen studiert: Ihre Aussagen sind so ähnlich, dass sie manchmal kaum voneinander zu unterscheiden sind. Vielleicht kann man sich die Wahrheit wie einen sehr großen, breiten und hohen Berg vorstellen, der nach oben hin spitz zuläuft. Die Besteigung kann von weit entfernten Orten starten, die Routen zum Gipfel sind höchst unterschiedlich, die allermeisten schaffen nur einen Teil des Weges – aber diejenigen, die oben ankommen, sind alle sehr nah beieinander.

Mit der Frage, wie man in Frieden sterben kann, haben sich alle großen philosophischen und spirituellen Traditionen auseinandergesetzt. Auffällig ist dabei, dass sie ausnahmslos einen direkten Bezug zwischen dem Sterben und dem Leben davor herstellen, und zwar in beiden Richtungen. Der stoische Philosoph Epiktet (circa 50–138 n. Chr.) sagte dazu: "Habe täglich den Tod vor Augen; das wird dich vor kleinlichen Gedanken und vor maßlosen Begierden bewahren." Der Buddha sagte: "Von allen Spuren ist die des Elefanten die größte. Von allen Meditationen ist die über den Tod die höchste." Und in der Bibel heißt es: "Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." Der große tibetische Meister und Dichter Milarepa (circa 1052–1135) sagte: "Meine Religion besteht darin, mich auf meinem Sterbebett nicht schämen zu müssen." Ein schönes Ziel, auch wenn viele von uns (mich inbegriffen) es nicht ganz erreichen werden.

Zusammengefasst kommen alle spirituellen Traditionen zum selben Schluss: Die Vorbereitung auf das Sterben ist die beste Vorbereitung für das Leben – und umgekehrt. Und die Erfahrungen in der Palliativ- und Hospizarbeit bestätigen es: Die Menschen sterben in der Regel so, wie sie gelebt haben. Ich durfte es vor Kurzem noch einmal aus nächster Nähe erfahren.

Vor zwei Wochen ist meine Schwiegermutter gestorben. Sie war 87 Jahre alt und schwer an Demenz erkrankt. Seit dem Tod ihres Ehemanns vor einem Jahr lebte sie alleine in ihrer Wohnung und wurde von einem Netzwerk aus professionellen Helfern und Familienangehörigen betreut. Sie hatte drei Kinder großgezogen und ihr Leben der Familie gewidmet. Sie war zeitlebens ein warmer, liebevoller und hilfsbereiter Mensch, und man konnte sich blind auf sie verlassen. Zum Schluss, als sie alleine und hilfsbedürftig war, bekam sie die Liebe, die sie in ihrem Leben so freigebig verschenkt hatte, wieder zurück. Ich habe noch nie eine so gut betreute, friedliche und zufriedene Demenzpatientin erlebt. Sie ist still und leise im Schlaf gestorben, als ob sie möglichst wenig stören wollte – genau so, wie sie gelebt hat.

Man muss freilich aufpassen, dass das "friedliche Sterben" nicht selbst zu einem Klischee wird, zu einer Schablone, an die sich die Menschen anzupassen haben. Das wäre wieder eine Form des Paternalismus. Wenn Menschen so sterben, wie sie gelebt haben, dann werden diejenigen, die ihr Leben lang Kämpfernaturen waren, sich auch nicht still und leise verabschieden – und das ist auch gut so. Der walisische Dichter Dylan Thomas schrieb die berühmten Verse "Do not go gentle into that good night; Rage, rage against the dying of the light" (Geh’ du nicht sanft in jene gute Nacht; Zürn, zürn dem Sterben deines Lichts). Er ist auch nicht gerade sanft gestorben, aber es war sein Tod.

Es gibt so viele Arten des Sterbens, wie es Menschen gibt. Und jeder Abschied ist umso kraftvoller, je kongruenter er mit der Persönlichkeit und der Lebensgeschichte des Sterbenden ist. Das kann leise oder laut, sanft oder herb, friedlich oder auflehnend sein. Wie schon die Begründerin der Hospiz- und Palliativbewegung, Dame Cicely Saunders, sagte, ist es die primäre Aufgabe der Sterbebegleitung, einen Raum zu schaffen, den der Sterbende ausfüllen kann, so wie er es möchte. Keiner hat dies besser verstanden und so unvergleichlich formuliert wie Rainer Maria Rilke, der in seinem Stundenbuch schreibt:

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod,
das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

Die Kolumne "The Power of Goodbye" von Sabine Rückert und Gian Domenico Borasio erscheint jeden zweiten Freitag.
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Re: In Frieden sterben

Beitragvon dina » 27.12.2024, 13:13

Dem kann ich als ehrenamtliche Sterbebegleitung nur zustimmen.
Ich werde mich auch heute wieder auf den Weg machen eine Dame mit schwerer Erkrankung zu besuchen.
Ich glaube in heutiger Zeit ist es ein Problem das Sterben wieder in der Gesellschaft sichtbar zu machen und als Teil des Lebens anzuerkennen und nicht zu verdrängen.
Das Sterben macht auch an Feiertagen keine Pause
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Re: In Frieden sterben

Beitragvon Hübi » 28.12.2024, 06:13

dina hat geschrieben:Dem kann ich als ehrenamtliche Sterbebegleitung nur zustimmen.
Ich werde mich auch heute wieder auf den Weg machen eine Dame mit schwerer Erkrankung zu besuchen.
Ich glaube in heutiger Zeit ist es ein Problem das Sterben wieder in der Gesellschaft sichtbar zu machen und als Teil des Lebens anzuerkennen und nicht zu verdrängen.
Das Sterben macht auch an Feiertagen keine Pause
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Meinen größten :respekt: für deine würdevolle und ehrenamtliche Sterbebegleitung! :huldigen: :ja: :clap: :winkie:
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