Das größte Glück ist fließend
Eine Kolumne von Kilian Trotier
Sinn-Redakteur bei der ZEIT
Liebe Leserin, lieber Leser,
neulich schrieb mir eine Kollegin davon, wie ihre Gefühle sie ausgetrickst hätten – und zwar im positiven Sinne. Den Tag zuvor hatte sie auf dem Weg von der Arbeit bei der Reinigung angehalten, um einen Anzug ihres Freundes abzuholen. Sie fand das ziemlich nervig, vor allem weil es eine Kunst ist, einen gereinigten Anzug unbeschadet auf dem Fahrrad durch die Stadt zu chauffieren. Als sie nach Hause kam, sei sie missmutig die Treppen hochgestapft, schrieb sie. Aber dann habe sie ein tiefes Empfinden von Glück gespürt und sich gefragt: Wo kommt das denn jetzt her? Eigentlich ging es ihr doch nicht doll, woher plötzlich dieser Wandel, in Sekundenschnelle?
Ihre Erklärung berührte mich, denn sie erzählte, sie habe realisiert, dass sie in dem Moment ein kindliches Gefühl erfahren habe. "Mir ist eingefallen, wie ich als Kind immer Erwachsene gespielt habe und davon geträumt habe, wie ich eines Tages ganz banale Sachen mache: für mich kochen, für meinen Freund Anzüge abhole, hochoffizielle Post bekomme und wichtige Telefonate führe."
Der gedankliche Weg zurück hat in ihr etwas freigesetzt, das vieles, was eigentlich banal bis unangenehm in unserem Alltag ist, nicht nur neutralisiert, sondern ins Gegenteil verkehrt hat. "Wenn ich mich daran erinnere, dass ich diese nervigen Sachen als Kind so toll fand, dass ich die Situationen sogar nachgespielt habe, wird mir ganz warm ums Herz", schrieb meine Kollegin, "und ich denke, dass es irgendwie doch sehr schön ist, wenn ich nach der Arbeit den Anzug von einem sehr tollen Man abholen darf, der zu mir gehört und dann komme ich nach Hause in so eine erwachsene Wohnung und spüle so erwachsenes Geschirr."
Man kann jetzt sagen: Schön für sie, aber was hat das mit mir zu tun, wenn ich nie solche Träume als Kind hatte? Und für mich persönlich trifft das zu. Zumindest haben sie keinen derart nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass ich mich noch an sie erinnere. Aber die Sehnsucht, die dahintersteckt, ist eine universelle: Dass man im Erwachsenenalter die kindliche Fähigkeit, sich für die kleinsten und noch so alltäglichen Dinge begeistern zu können, zumindest ab und an noch aufblitzen sieht und spürt.
Dieses Glück ist wie ein Sehnsuchtsort. Ihn zu erreichen, ist nicht leicht. Wenn man aber einmal da ist, dann würde man ihn am liebsten niemals wieder verlassen. Deshalb ist die Frage dringlich: Lässt sich der Zustand erreichen, ja auf eine Art herstellen?
Ein vor drei Jahren verstorbener ungarischer Psychologe, dessen Name so spektakulär anmutet, dass er sich allein deswegen lohnt, ihn zu erwähnen, hat eine Theorie entwickelt, die sich dem Phänomen nähert. Er hieß Mihály Csíkszentmihályi, lehrte an der University of Chicago und prägte den Begriff flow, was auf Deutsch Fluss bedeutet. Im Fluss sein, das ist für uns Erwachsene recht nah dran an dem Idealbild, das wir von der kindlichen Selbstvergessenheit und Begeisterungsfähigkeit haben. Nicht ohne Grund trägt eines seiner Werke den Titel Flow. Das Geheimnis des Glücks.
Csíkszentmihályi setzte an dem Punkt an, dass wir Menschen jeweils unterschiedliche Fähigkeiten haben und jeweils individuell auf Herausforderungen reagieren. Wenn wir etwas tun, bei dem unsere Fähigkeiten nicht ausreichen, die Herausforderungen aber groß sind, geraten wir schnell in Stress. Andersrum sind wir gelangweilt, wenn wir viele Fähigkeiten haben, aber nicht herausgefordert werden. Zwischen diesen beiden Polen gibt es für Csíkszentmihályi einen Korridor, in dem ein flow-Zustand entstehen kann. Am einfachsten zu verstehen ist der, wenn man konkret wird. Eine Geigenspielerin spielt sich in eine Form von Rausch. Eine Marathonläuferin gerät ins runner's high, in jenen Zustand, in dem sich das Laufen leicht anfühlt, der ganze Körper zu schweben scheint. Ein Tänzer gerät in Ekstase, während er seinen Körper bewegt. Aber auch bei der Arbeit ist das möglich, wenn man voll konzentriert ist, fokussiert auf diese eine Aufgabe, diese eine Sache.
Es gibt also Wege, diese besondere Form des Glücks zu provozieren, in dem alles fließt, in dem Gehirn und Körper auf Autopilot-Modus schalten, während sie gleichzeitig sehr leistungsfähig sind. Das ist eine wunderbare Erkenntnis. Aber mindestens genauso schön ist die Erfahrung, die meine Kollegin gemacht hat: Dass Glück sich einstellt, ohne dass man nur das Geringste dafür getan hätte. Ja ohne, dass man es überhaupt für möglich gehalten hätte. Das Einzige, was man dafür sein muss, ist offen. Und da sind wir wieder bei den Kindern. Denn wenn man eines von ihnen lernen kann, dann ist es, staunend auf die Welt zu schauen.
Die Kolumne "Der Optimist" von Kilian Trotier erscheint jeden zweiten Montag.