12.09.2024, 19:07
Auf einmal gibt es Hoffnung
Chorea Huntington ist eine der schrecklichsten Erbkrankheiten, es gibt keine Therapie. Doch jetzt könnte der Durchbruch gelingen – für dieses und andere Leiden
Von Ulrich Bahnsen
Aus der ZEIT Nr. 38/2024
Aktualisiert am 8. September 2024, 12:18 Uhr
Kinder sind immer teuer. Für Isas kleinen Sohn hatten die Eltern schon 22.000 Euro bezahlt, als er noch nicht einmal geboren war. Was sie damit erreichten, kann man mit Geld aber nicht aufwiegen: Frederik, inzwischen dreieinhalb Jahre alt, ist ein ganz normaler gesunder Junge. Damit die Familie anonym bleibt, wurden sein Name und der seiner Mutter geändert. Normal und gesund – bei Frederik bedeutet das sehr viel mehr als bei anderen Kindern. Es heißt, dass er nie der tödlichen Krankheit zum Opfer fallen wird, die bei seinem Großvater längst ausgebrochen ist und die auch seine Mutter Isa irgendwann treffen wird: Chorea Huntington. Eine erbliche, stets tödliche Nervenkrankheit. Seit mehr als 150 Jahren ist das schwere Leiden eine hoffnungslose Diagnose. Und bis jetzt gibt es nur einen Weg, dieses Schicksal zu vermeiden: die Vererbung, wie bei Frederik, von vornherein auszuschließen.
Doch jetzt gerade, im Sommer 2024, ändert sich das. Auf einmal gibt es so etwas wie Optimismus bei Betroffenen und den Neurologen, die sie betreuen. Wenn er sich als gerechtfertigt erweist, wäre es ein historischer Durchbruch in der Heilkunst. Und zudem ein weiterer Triumph der aufblühenden neuen RNA-Medizin: Mit ihr gelangen endlich Therapien gegen gefürchtete Erkrankungen in Reichweite – gegen Huntington sowie andere bislang kaum behandelbare Krankheiten des Nervensystems, die oft auch den gesamten Organismus in Mitleidenschaft ziehen.
Anlass für den Optimismus sind Meldungen über mögliche Therapien, die im vergangenen Monat aus Kliniken und Forschungsstätten nach draußen drangen. So überraschend sie sind, sie wurden sehnlichst erwartet. Denn wenn die Wissenschaft nicht liefert, werden nicht nur Isa und ihr Vater Chorea Huntington zum Opfer fallen, womöglich in geistiger Umnachtung, ausgezehrt, mit zerstörtem Gehirn. Sondern dasselbe Schicksal steht auch rund 10.000 Menschen allein in Deutschland bevor, die schon Symptome der Erkrankung haben: typische unkontrollierbare Bewegungsstörungen (Chorea), aggressive und psychotische Zustände, zunehmender geistiger Verfall. Weitere 30.000 Bundesbürger, so die Schätzungen der Fachleute, tragen den verantwortlichen Gendefekt in sich – viele, ohne es zu wissen. Auch wenn die Verläufe variabel und nicht immer so dramatisch sind, all diese Menschen werden das Leiden unweigerlich entwickeln, ohne Ausnahme. Schon 1872 hatte der damals erst 22-jährige New Yorker Arzt George Huntington die Krankheit als Erster genau beschrieben. Und obwohl die Ursache bereits vor mehr als drei Jahrzehnten im Erbgut von Patienten entdeckt wurde, gibt es bis heute nicht eine Behandlung, die am Verlauf des Leidens etwas ändern kann. Chorea Huntington war immer eine fatale Krankheit, bei der Mediziner dem 15 und mehr Jahre währenden Niedergang ihrer Patienten nur zusehen können, auch wenn sie heute Symptome zu lindern vermögen.
Die Perspektive, dass die RNA-Medizin daran nun endlich etwas ändern könnte, versetzt auch die an solchen neuartigen Interventionen arbeitenden Unternehmen in Aufbruchsstimmung. Vor allem eine Nachricht der in Amsterdam ansässigen Firma uniQure, die im Juli durch die Branchendienste zirkulierte, löste in der Huntington-Szene fast schon Euphorie aus. In zwei Studien hatte ihre Gentherapie AMT-130 nach zwei Jahren Beobachtungszeit den Niedergang der Probanden klar verzögert: in einer niedrigen Dosierung immerhin um 30 Prozent, in der höheren aber um ganze 80 Prozent – beinah ein Stillstand also. Wenn ein Effekt derart von der Dosis eines Mittels abhängt, gilt das in der Pharmaentwicklung immer als gutes Omen dafür, dass die gemessene Wirkung real ist. Dabei hatte uniQure nur eine Halbzeitbilanz verkündet: Die Teilnehmer wurden einmal mit der dauerhaft wirkenden Gentherapie behandelt und sollen insgesamt vier Jahre lang beobachtet werden. Bislang sind zudem erst wenige Patienten in diese Studien aufgenommen worden; 21 in den Vereinigten Staaten, 16 in britischen und polnischen Kliniken, alle in einem frühen Stadium. Trotz der geringen Zahl der Teilnehmer ist der Unterschied zwischen den Empfängern der Therapie und Placebo-Patienten sowie einer vergleichbaren Kohorte von Huntington-Patienten außerhalb der Studie statistisch signifikant. Auch im Huntington-Zentrum NRW im Bochumer St. Josef-Hospital, einem der größten Zentren weltweit, in dem über tausend Betroffene betreut werden, ist nun vorsichtige Hochstimmung zu spüren. UniQures Mittel muss allerdings ins Hirn gespritzt werden – "die Behandlung ist recht invasiv", sagt Carsten Saft, Leiter der Huntington-Ambulanz im Bochumer Zentrum und federführender Autor der deutschen Leitlinien zur Behandlung der Erkrankung. "Aber wenn es langfristig wirkt, wäre das fantastisch." Eine solche Verlangsamung des Krankheitsverlaufs zu erreichen, sagt er, wäre extrem positiv für die Selbstständigkeit der Patienten. Das sieht man offenbar auch bei der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA so: Sie stufte das Mittel so ein, dass es schneller zugelassen werden kann. Weil Menschen mit schweren tödlichen und nicht therapierbaren Leiden wie etwa Huntington einfach keine Zeit zu verlieren haben, sobald ein Hoffnung spendendes Mittel auftaucht.
Mit dieser sogenannten RMAT-Einstufung durch die FDA kann uniQure nun laufend neue Patientendaten in das Verfahren einspeisen und wird von der Behörde eng begleitet und beraten. Die Studie der Firma läuft noch weitere zwei Jahre, doch im Prinzip könnte die Behörde schon aufgrund der jetzt vorliegenden Ergebnisse eine Zulassung erteilen. Die müsste dann aber durch die Resultate der Anwendung gestützt werden. Über diese Fragen sollen noch in diesem Jahr Gespräche zwischen dem Unternehmen und der FDA stattfinden. "Alles bewegt sich in die richtige Richtung", urteilt der Neurologe Patrick Weydt, Leiter der Huntington-Ambulanz in Bonn. "Im Moment ändert es jedoch an der Situation der Betroffenen noch nichts." Derzeit ist weder absehbar, wie die FDA uniQures Gentherapie künftig regulatorisch handhabt, noch ist die Haltung ihres europäischen Pendants, der EMA, dazu klar. Doch auch wenn Verfahren für eine echte Heilung des fatalen Leidens erst in den Laboren konzipiert werden, können die Betroffenen nun zum ersten Mal Hoffnung auf Besserung schöpfen.
Was für einen Fluch diese eine Genveränderung über Menschen bringt, illustriert wie kaum eine andere die dramatische Geschichte der Familie Guthrie. In den 1940er-Jahren ist Woodrow Wilson "Woody" Guthrie ein weltweit berühmter Folkmusiker: This Land Is Your Land gilt bis heute als Ikone des politischen Protestsongs, als alternative amerikanische Nationalhymne. Doch zuvor, in der großen Rezession nach dem Schwarzen Freitag von 1929, verliert die Familie ihren gesamten Besitz. Dann, so wird berichtet, brennt auch noch ihr Haus nieder, Woodys Schwester Clara soll noch am selben Tag ihren Verbrennungen erlegen sein. Es gibt keine klare Diagnose aus dieser Zeit, aber vermutlich hat Woody Guthries Mutter ihren Ehemann in einem psychotischen Anfall mit Kerosin übergossen und angezündet. Schon zuvor hatte sie wohl aggressive und verstörende Verhaltensweisen gezeigt – vermutlich die ersten Anzeichen ihrer Huntington-Krankheit. Sie stirbt Jahre später völlig umnachtet in einer Nervenheilanstalt. Auch ihrem Sohn bleibt dieses Schicksal nicht erspart. Woody Guthries Leben endet nach nur 55 Jahren in einer Spezialabteilung für Huntington-Patienten in New York. Und dabei bleibt es nicht: Von seinen acht Kindern aus drei Ehen sterben zwei Töchter an der Krankheit. Nur drei seiner Kinder aus der zweiten Ehe, darunter der ebenfalls bekannte Folkmusiker Arlo Guthrie, haben Glück. Das Gen, das ihre Großmutter, ihren Vater und zwei Schwestern umbrachte, haben sie nicht geerbt.
Zu Woody Guthries Zeit und noch lange danach konnten Ärzte praktisch nichts für Huntington-Patienten tun. Das könnte sich nun grundlegend ändern – doch für schwache Nerven ist uniQures Verfahren nichts. In einer hochpräzisen Operation müssen Neurochirurgen dabei drei Dosen der Gentherapie in eine tiefe Region des Hirns einbringen, das sogenannte Striatum. "Das ist ein mehrstündiger Eingriff", sagt Carsten Saft, "er muss sehr genau kontrolliert werden." Von dort, so lassen zumindest Tierversuche hoffen, könnte sich das Mittel nach und nach über das gesamte Denkorgan verbreiten. Das ist möglich, weil der eigentliche Wirkstoff von einem harmlosen und modifizierten Virus transportiert wird, das die Nervenzellen infiziert. Erst dann wird die heilsame Fracht des Genvehikels aktiv. Sie blockiert den Prozess, der die Nervenzellen sterben lässt. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass die Infektion Nebenwirkungen erzeugen könnte, etwa Immunreaktionen. Um genauer zu verstehen, wie diese und andere in der Entwicklung stehende Verfahren wirken sollen, muss man ein wenig über die molekularen Vorgänge bei der Huntington-Krankheit wissen. Sie sind allerdings keineswegs vollständig von der Wissenschaft entschlüsselt und stellen auch Fachleute noch vor viele Rätsel. Die eigentliche Ursache ist eine bizarre Veränderung in einem Gen auf dem Chromosom 4. In dessen vorderem Bereich gibt es eine Schwachstelle: einen Abschnitt aus drei Genbuchstaben, die sich wiederholen. Normalerweise enthält das Gen maximal 27 dieser Wiederholungen. Doch dieser Genbereich ist heikel, er kann sich bei der Zellteilung weiter aufblähen. Überschreitet die Folge 35 Wiederholungen, ist eine kritische Grenze durchbrochen: Es entsteht Huntington. Je länger die Folge ist, desto früher bricht das Leiden aus, und desto aggressiver ist der Verlauf. So erkranken manche Patienten schon als Minderjährige, obwohl die Symptome im Durchschnitt erst mit Anfang 40 bemerkbar werden. Doch wie genau entstehen sie?
Neurowissenschaftler haben eine ganze Reihe von Hypothesen über den Mechanismus formuliert, der die Nervenzellen von Huntington-Kranken in den Untergang treibt. Klar ist, dass auch das vom pathologisch veränderten Gen abgeschriebene Botenmolekül mRNA diesen aufgeblähten Bereich enthält. In den Eiweißfabriken der Zellen erzeugt diese veränderte mRNA dann wiederum ein abnormes Protein. Entweder dieses veränderte Protein oder bereits die fehlerhafte mRNA könnten toxische Wirkung entfalten; womöglich sind beide giftig.
Die Fachleute in Biotech-Unternehmen wie uniQure verfolgen daher eine einfache Strategie: Verringert man die Menge der von dem Gen abgeschriebenen mRNA, bremst man zugleich das gebildete Protein aus und entschärft so beide möglichen Ursachen. Frederiks Mutter Isa hat alles Menschenmögliche getan, damit ihr Kind auf solche Therapien gar nicht erst angewiesen sein wird. Als ihr Vater die ersten Symptome bekam, ließ sie selbst einen Gentest machen – er war positiv, sie trägt das fatale Gen ebenso in ihrem Erbgut. "Das war schon ein Schock", erzählt sie, "da hat man auch schlechte Tage, an denen die Gedanken kreisen." Sie wollte ein Kind, doch das Risiko war bei natürlich gezeugtem Nachwuchs zu groß. Huntington ist eine dominant vererbte Erkrankung, jedes Kind eines Betroffenen hat daher ein Risiko von 50 Prozent, den fatalen Defekt zu erben. In Isas Situation gab es nur drei Auswege: auf ein Kind verzichten; die Schwangerschaft abbrechen, falls das Ungeborene auch den Gendefekt trägt. Oder vorbeugen: "Wir haben uns schnell für Präimplantationsdiagnostik entschieden." Das ist keine Kleinigkeit. Die zuständige Ethikkommission muss einen Antrag genehmigen. Eigentlich sind Krankheiten, die erst nach dem 18. Lebensjahr auftreten, in Deutschland von der Methode ausgeschlossen. Aber weil Huntington auch schon bei Minderjährigen ausbrechen kann, bekommen Isa und ihr Mann nach zwei Monaten Wartezeit die Erlaubnis der Ethikkommission.
Dann die Behandlung: Hormonstimulation, um Eizellen zu gewinnen, Befruchtung im Labor, die entstandenen Embryonen werden genetisch getestet, gesunde in den Körper übertragen. Dann hoffen auf eine Schwangerschaft. Isa hat sieben solcher Zyklen durchgestanden, bis sie nach drei Jahren endlich mit Frederik schwanger war. "Einen gesunden Embryo haben wir noch auf Eis", erzählt sie: "Unser Eisbär." Den will sie noch übertragen lassen, vielleicht kommt ja noch ein Kind.
Doch auch wenn ihr Nachwuchs auf der sicheren Seite ist, Isa selbst ist es nicht. Immerhin sind die vielen Jahrzehnte der Aussichtslosigkeit für sie und Zehntausende andere Betroffene nun vorbei. Denn neben uniQures vorläufigem Erfolg sorgen weitere Durchbrüche für erwartungsfrohe Stimmung in der Huntington-Community. Die drei US-Unternehmen PTC Therapeutics, Skyhawk Therapeutics und Wave Life Sciences haben mit neuen Wirkstoffen positive Resultate erzielt. "Nach einigen Rückschlägen in den vergangenen Jahren ist dieser Sommer voller guter Nachrichten", sagt der Huntington-Fachmann Carsten Saft. In der kommenden Woche, beim jährlichen Kongress des European Huntington’s Disease Network in Straßburg, werden diese und weitere Unternehmen ihre neuen Ergebnisse präsentieren.
Auch diese Wirkstoffe werden derzeit in relativ frühen Studien am Menschen getestet. Nach bisherigen Untersuchungen senken sie alle die Menge des Huntington-Proteins. "Ein Mittel, das im Gehirn das Ablesen meiner Gene beeinflusst", sagt Carsten Saft, "das war bis vor Kurzem Science-Fiction." Die Substanzen haben verschiedene Vorteile gegenüber der Gentherapie von uniQure: Waves Kandidat muss zwar alle zwei Monate ins Nervenwasser im Rückenmark gespritzt werden. Aber dieses Mittel ist selektiv – es bremst nur die krank machende mRNA aus.
Um zu verstehen, warum das wichtig ist, muss man sich vergegenwärtigen, dass Huntington-Patienten ebenfalls eine normale Version des betroffenen Gens besitzen, das sie vom gesunden Elternteil geerbt haben. Wenn man auch dieses normale Gen zu stark ausschaltet, gibt es ein Problem, denn eine gewisse Menge des Proteins wird benötigt: vom Gehirn und anderswo im Körper, in praktisch allen Geweben. Ideal wäre es daher, nur das krank machende Gen zu blockieren, so wie es das Mittel von Wave versucht. Noch besser wäre es aber, wenn dies nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper gelänge, denn dort richtet es ebenfalls Schäden an. "Huntington ist deshalb eine systemische Erkrankung", sagt der Bonner Neurologe Patrick Weydt. Sie betrifft nicht nur das Gehirn: Im Spätstadium leiden die Patienten unter massiver Auszehrung, häufig sterben sie an einer Infektion, etwa einer Lungenentzündung, weil ihr Körper Erregern nicht mehr Paroli bieten kann. Die Wirkstoffe von PTC und Skyhawk schaffen es, den gesamten Körper zu erreichen, sie können einfach als Tablette eingenommen werden. Die Studie von PTC läuft auch in Deutschland, im Bochumer Zentrum bei Carsten Saft und an der Uni Ulm. Allerdings wirken die Pillen nicht nur gezielt gegen das pathologische Gen; sie greifen in die Reifung der normalen wie der fehlerhaften mRNA ein.
Ob überhaupt und, wenn ja, welche der Mittel am Ende wirklich eine effektive Therapie gegen das gefürchtete Leiden sein können, ist also noch immer ungewiss. Isa jedenfalls würde den Versuch eines klinischen Tests wagen. "Natürlich", sagt sie, "sobald ich kann, will ich auf jeden Fall helfen." Um ein Mittel zu finden, das sie vor der Krankheit schützt – und alle anderen Betroffenen.