Ein Marathon reicht ihnen nicht
Sie pushen ihre VO2Max-Werte, optimieren die Laufökonomie – alles, um weiter laufen zu können. Wie Ultrarunner es schaffen, durchzuziehen, obwohl der Kopf sagt: aufhören.
Von Carolin Johannsen
6. Dezember 2024, 5:19 Uhr
Mit blutenden Füßen und einem breiten Lächeln erreicht Elena Lopez Montreux. Sechs Tage ist die Ultraläuferin Mitte August 2024 auf den Beinen gewesen und hat auf der Via Alpina die Schweizer Alpen überquert. "Da wusste ich, das war meine Grenze", sagt Lopez heute. Mehr ging nicht. Ihre Grenze, das sind: 404 Kilometer und 23.000 Höhenmeter in sechs Tagen mit wenig Schlaf und wenigen Pausen. 404 Kilometer, das sind mehr als neuneinhalb Marathons.
"Ich möchte meine Grenzen immer weiter austesten", sagt die 31-Jährige, die nicht nur selbst weit rennen kann, sondern zudem als Oberärztin der Sportmedizin in einem Spital in Davos Breiten- wie Spitzensportler betreut. Inzwischen gibt es einige Menschen, denen ein Marathon nicht genug ist, die noch weiter laufen wollen. Es gibt 24-Stunden-Läufe und 100-Kilometer-Läufe – Wettkämpfe, die jeden sonst bekannten Zeitrahmen sprengen. Ultramarathon oder Ultralauf nennt man diese Rennen, die länger sind als ein Marathon.
Als Sportmedizinerin weiß Lopez, dass ein Mensch grundsätzlich noch länger und weiter laufen kann als ihre 404 Kilometer. Aber: Wie viel länger ist möglich? Wie weit kann ein Mensch ohne Schlaf laufen?
Den Rekord hält der US-Amerikaner Dean Karnazes, 2005 lief er 350 Meilen, also etwa 563 Kilometer, in 80 Stunden und 44 Minuten. Anders als Lopez ohne Pause und ohne Schlaf. 563 Kilometer, das ist weiter als die Strecke von Nürnberg nach Lübeck. Hinterher sagte Karnazes, er habe einfach mal schauen wollen, wie weit er laufen kann. Er aß beim Laufen, trank beim Laufen, stoppte nur kurz für Toilettengänge und lief dann weiter. Der Guardian taufte ihn "den Mann, der für immer rennen kann". Seitdem ist kein anderer Mensch ohne Schlaf so weit gelaufen wie er.
Möglicherweise geht es aber auch noch weiter, eine genaue Distanz, wie weit ein Mensch laufen kann, lässt sich nicht bestimmen. Aktuell gelten Karnazes' 563 Kilometer als Grenze, aber wer weiß, vielleicht läuft bald jemand noch länger ohne Schlaf und ohne Unterbrechung.
"Unsere Vorfahren liefen den ganzen Tag", sagt Elena Lopez. Der Mensch sei ein geborener Ausdauersportler. In der Wissenschaft wird sogar seit Langem eine These diskutiert, dass die Evolution den Menschen zu einem Ausdauerläufer gemacht hat: die endurance running hypothesis. 2004 beschrieben Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Nature, warum der Mensch so optimale Voraussetzungen fürs lange Laufen hat: die langen Beine, die federartigen und dadurch energiesparenden Sehnen, die starken Muskeln und die große Gelenkoberfläche. Auch die Fähigkeit, über das Schwitzen die Körpertemperatur zu regulieren. Das Läufer-Gen steckt in der DNA des Menschen, theoretisch könnte jeder sehr weit laufen.
Es gibt bestimmte Faktoren, die beeinflussen, wie lang man seinen Körper in Bewegung halten kann. "Besonders wichtig ist der Stoffwechsel", sagt Lopez. Regelmäßig erklärt sie den Sportlerinnen und Sportlern, die zu ihr ins Spital kommen, dass Muskelaufbau wichtig sei, um Verletzungen zu vermeiden, Ernährung aber eine ebenso große und unterschätzte Rolle spiele.
Wer weit laufen will, muss viel essen
"Der Körper kann nur leisten, wenn er genügend Energie bekommt", sagt Lopez. Wem aufgrund von Kohlenhydratmangel die Energie ausgeht, kann nicht weiterlaufen. Dann kommt der Mann mit dem Hammer, wie das Läufer nennen. Vielen ist der plötzliche Energieverlust auch als Hungerast bekannt. Wer weit laufen will, muss also viel essen, auch während des Laufens. Selbst viele Profisportler vernachlässigen das oft.
Und dann gibt es noch ein Element, von dem entscheidend abhängt, wie lange man durchhält: Sauerstoff. Ohne Sauerstoff kann kein Muskel lange arbeiten. Inzwischen kennen fast alle Ausdauersportlerinnen zwei Werte. Der erste ist der VO₂max-Wert. Er gibt an, wie viel Sauerstoff ein Mensch pro Minute maximal aufnehmen und verarbeiten kann. Laut dem Bundesamt für Sport (PDF) ist für 30-jährige Männer ein VO₂max-Wert von über 57 ausgezeichnet, also wenn ein Körper 57 Milliliter Sauerstoff pro Kilogramm Körpergewicht verwerten kann. Für 30-jährige Frauen ist ein Wert über 46 ausgezeichnet. Elena Lopez will nicht sagen, welchen Wert sie erreicht, nur so viel: Er liege im überdurchschnittlichen Bereich.
2023 erreichte der Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard den bis dahin höchsten jemals gemessenen Wert: 97 Milliliter Sauerstoff pro Kilogramm. Seinen VO₂max-Wert kann man etwa durch Intervalltraining erhöhen, er ist aber auch genetisch bedingt, etwa durch die Anzahl der Blutkörperchen. Wer einen schlechten VO₂max-Wert hat, wird nie wie Elena Lopez und Dean Karnazes mehrere Stunden am Stück laufen können.
Ebenso wichtig ist die sogenannte Laufökonomie. Sie gibt an, wie effizient jemand läuft. Also wie viel Sauerstoff ein Läufer benötigt, um ein bestimmtes Tempo zu laufen. Laufen zwei Menschen im gleichen Tempo, verbraucht einer der beiden dabei aber weniger Sauerstoff, hat er die bessere Laufökonomie – und wird folglich länger dieses Tempo durchhalten. Wer einen hohen VO₂max-Wert und eine effiziente Laufökonomie hat, verfügt über die physischen Grundeigenschaften, um einen Ultramarathon zu schaffen. Praktisch aber schafft es kaum jemand, so weit (oder noch weiter) zu laufen.
Das schaffen nur Menschen, die noch eine weitere Fähigkeit besitzen: mentale Stärke. Es klingt trivial, aber auf höchstem Niveau entscheidet auch der Wille. Der ehemalige Marathon-Weltrekordler Eliud Kipchoge hat darauf immer wieder hingewiesen. Der Körper und der Geist seien gleich wichtig, sagt er.
An der Universität Freiburg forscht die Sportpsychologin Jana Strahler zur Wirkung der Psyche auf sportliche Leistungen; auch um Strategien zu finden, die Höchstleistungen möglich machen. Und um den Schmerz zu überwinden. "Beim Ultrarunning ist die Frage nicht, ob der Schmerz kommt, sondern wann", sagt Strahler. Ein Prädiktor dafür sei die individuelle Genetik. Manche Menschen seien eher zum Laufen gemacht als andere.
Strahler nennt Menschen, die sehr lange und sehr weit laufen, "Risikomanager". Sportler, die wissen, wo ihre Grenzen liegen und wie sie diese erreichen. Menschen, die ihren Körper überlisten, überhören, übergehen, um das eigene Gehirn auszutricksen, das einem sagt, man solle stehen bleiben. "Diese Leistung ist auf mentale Strategien zurückzuführen", sagt Strahler.
Wie genau diese Strategien aussehen, ist individuell. Oft spielt eine innere Motivation eine Rolle. "Niemand fängt einfach so aus Spaß damit an, so weit zu laufen", sagt Elena Lopez und spricht aus eigener Erfahrung. Sie selbst lief ihren ersten Ultramarathon wenige Monate nach einer Trennung und betäubte die psychischen Schmerzen mit körperlichen Schmerzen. Es gibt zudem Studien, die belegen, dass Menschen, die sich positiv zureden, länger Leistung bringen können.
Ewig laufen kann trotzdem niemand. Ein Faktor zwingt jeden irgendwann zum Aufgeben. "Der ausschlaggebende Faktor, wann endgültig Schluss ist, ist Schlafmangel", sagt die Ultraläuferin Elena Lopez. Denn nicht nur die Muskeln seien irgendwann erschöpft, auch die Nerven, insbesondere im Gehirn, werden müde. Lopez drückt es etwas radikaler aus: "Wer nicht schläft, der stirbt."
Vor Müdigkeit halluzinierte sie und glaubte, einen Puma zu sehen
Sportwissenschaftler haben herausgefunden, dass Schlafentzug die Reaktionszeit verringert, die kognitive Leistung beeinträchtigt und das Glykogen, also die in den Zellen gespeicherten Kohlehydrate, verringert. Wer nicht schläft, kann irgendwann auch nicht mehr laufen, weil ihm die Energie ausgeht und die Muskeln nicht mehr funktionieren. Lopez hat es selbst erlebt, wenn der Schlafmangel zu einem Problem wird, zu einem sehr großen. Einmal, als sie in den Schweizer Bergen gerade über einen Kamm lief, halluzinierte sie vor Müdigkeit und glaubte, einen Puma vor sich zu sehen. Beängstigend habe sie das gefunden, erzählt sie.
Irgendwann kann man während des Laufens sogar einfach einschlafen. "Man fällt immer wieder in Sekundenschlaf, was zu Unfällen führen kann", sagt Lopez. Als sie ihren bisher längsten Lauf beendete, waren ihre Füße, Schienbeine und Knie blutig von Stürzen.
Studien, wie lange ein Mensch ohne Schlaf maximal laufen kann, gibt es nicht. Das Experiment wäre zu gefährlich, selbst Guinness World Records schaffte den Rekord für die längste Zeit ohne Schlaf ab. Auch bei Dean Karnazes war es der Schlafmangel, der ihn zum Aufhören trieb. Nach 350 Meilen war er übermüdet, erschöpft und stark unterkühlt. "Sicher ist es möglich, meinen Rekord zu brechen", schreibt er per E-Mail. "Aber dafür wird es jemanden brauchen, der unter extremem Schlafmangel dennoch schnell laufen kann."