4.689 Tage, 4.690 Tage, 4.691 Tage, 4.692 Tage, 4.693 Tage …
Michael Weber läuft seit fast 13 Jahren jeden Tag. Wirklich jeden, ohne Ausnahme. Er ist Streak-Runner – und noch ganz weit weg vom Weltrekord.
Von Lukas Brems
6. November 2022, 17:03 Uhr
Es gibt wohl nur wenige Dinge, die einfacher sind, als sich mit Michael Weber zum Laufen zu verabreden. Vor unserem Treffen schreibt Weber, dass er auf besseres Wetter hoffe als vergangenen Sonntag, da habe es nur geregnet. Tatsächlich scheint um neun Uhr im Stuttgarter Schlossgarten die Sonne, ein schöner Herbsttag bahnt sich an. Eigentlich ist das aber komplett egal. Weber läuft auch bei Regen oder Sturm. Jeden Tag. Seit genau 4.693 Tagen.
Weber, 64, grau-roter Schnäuzer, schlank, aber nicht hager, ist Streak-Runner. Was das bedeutet, steht auf seiner Kappe: "täglich laufen", und zwar mindestens eine Meile, also rund 1,6 Kilometer. Seine Serie begann am 31. Dezember 2009, seitdem joggt er jeden Tag, ein Akt von so unvorstellbarer Konstanz, dass man lieber noch einmal nachfragt. War er denn nicht mal verletzt oder krank? "Doch! Also, na ja, nicht so krank, dass man nicht mehr laufen kann."
Die Website von Streak Running International (SRI), auf der die Streaks von Läuferinnen und Läufern verzeichnet sind, listet Weber als "erfahrenen Läufer". Nach einem Jahr Streak-Running ist man offiziell Anfänger. Wer seine Streak seit fünf bis zehn Jahren aufrechterhält, gilt als "geübt". Die Kategorien sind weder lustig noch despektierlich gemeint, sondern Ansichtssache. Mit einer Streak von mehr als 40 Jahren wird man zur "Legende", was derzeit laut SRI auf 36 Menschen weltweit zutrifft. Auf Platz eins steht der US-Amerikaner Jon Sutherland. Er begann seinen Streak 1969.
Im Schlossgarten schlägt Weber vor, erst einmal fünf Kilometer zu laufen, dann könne man ja weitersehen. Nach einem kurzen Abstecher zum Schloss geht es Richtung Norden, über den Neckar und das Gelände des Stuttgarter Volksfests, das an diesem Tag zu Ende geht, genau wie meine Hoffnung, dass es bei fünf Kilometern bleiben wird. Während Weber fast durchgehend erzählt, sorge ich mich, durch mein Schnaufen die Audioaufnahme unbrauchbar zu machen.
Weber war, nach eigener Aussage, ein unsportliches Kind aus einer unsportlichen Familie. Bis zu seinem 31. Lebensjahr spielte Laufen keine Rolle in seinem Alltag. Er arbeitete als Programmierer und Softwarebetreuer, wollte abnehmen und begann, zum Büro zu spazieren, statt mit der Bahn zu fahren. Als das Unternehmen weiter weg zog, ersetzte er den Spaziergang durch Joggen auf einem Trimm-dich-Pfad, 2,8 Kilometer lang, erst eine Runde, irgendwann drei, dann vier. "Da habe ich mir gedacht: Das ist doch eigentlich bescheuert, immer nur diese Runden laufen, so ohne konkretes Ziel", erzählt Weber.
Das Ziel fand er dann 1990 zufällig in einem Artikel der Stuttgarter Zeitung: Ein Marathon in Leinfelden. Dort wiederum erfuhr er von den Kilometerabzeichen des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV). "Wer bei offiziellen Wettkämpfen 250 Kilometer gelaufen ist, konnte beim DLV ein Kilometerabzeichen bestellen", sagt Weber. Das habe seine Sammelleidenschaft geweckt. Früher waren es Münzen, von da an Kilometer.
In seiner persönlichen Datenbank hat er jeden gelaufenen Kilometer seit 1989 dokumentiert. Erst auf Papier, später digital, mit Daten wie Zeit, Temperatur und Laufschuh ("Früher haben meine Schuhe bis zu 3.000 Kilometer gehalten, die heutigen Modelle sind schon nach 400 hinüber"). Insgesamt ist er mehr als 100.000 Kilometer gelaufen und hat fast 900 Wettkämpfe bestritten. Freut er sich da noch auf die täglichen Joggingrunden? "Sagen wir mal so: Es gehört einfach zum Tagesprogramm. Es stellt sich nur die Frage: Laufe ich morgens oder mittags?" Laufen ist zu etwas Alltäglichem geworden, so wie zur Toilette gehen oder Zähneputzen. Um Vorfreude geht es da nicht, man plant so etwas nicht, sondern macht es einfach.
"Da dachte ich: Gut, heute ist der Tag gekommen, jetzt ist es rum"
Selbst an Tagen, an denen man schon 100 Kilometer in den Beinen hat. Im September ließ er sich zum Megamarsch in Stuttgart überreden, ein Event, bei dem Teilnehmerinnen und Teilnehmer 100 Kilometer in 24 Stunden gehen. Eine ordentliche Leistung, aber für die Streak muss eben gejoggt werden. "Eine Stunde nachdem ich wieder zu Hause war, bin ich noch zwei Kilometer gelaufen", sagt Weber. Er ist Rentner, doch als Kampfrichter und einer der wenigen DLV-Streckenvermesser in Baden-Württemberg ist er häufig unterwegs. "Wenn ich mal etwas weiter zu einem Termin fahren muss, bin ich auch schon morgens um halb fünf gelaufen, weil ich sonst kein anderes Zeitfenster gehabt hätte. Da muss man stur sein."
Am 31. Dezember 2009 startete Weber seine Streak, zunächst ohne es zu wissen. Dass es so etwas wie Streak-Running gibt, erfuhr er erst Tage später. "Früher bin ich nicht jeden Tag gelaufen. Wozu auch?", fragt Weber und beantwortet die Frage ein paar Sätze später: "Durch das tägliche Laufen kommen mehr Kilometer in die Statistik." Weber zieht seine Motivation vor allem aus Statistiken und Ergebnislisten. Sobald er nach einem Lauf nach Hause kommt, überträgt er die Daten seiner Laufuhr auf den Computer. "Es gibt nichts Schlimmeres, als das Eintragen zu vergessen", sagt er. Ob er auch jeden Tag laufen würde, wenn es keine öffentliche Bestenliste gäbe? "Man läuft zwar schon irgendwie für sich, aber diese externe Motivation braucht es einfach."
Als Streak-Runner müsse man in seinen Körper hineinhorchen, sagt Weber. Als richtig guter Streak-Runner scheint man aber auch mal ignorieren zu müssen, was man da so hört. Vor zwei Jahren hatte Weber gedanklich schon mit seiner Streak abgeschlossen. Im November versteifte sein Knie über Nacht so sehr, dass er es nicht mehr beugen konnte. Der Orthopäde empfahl, erst mal nicht mehr zu joggen. "Da dachte ich: Gut, heute ist der Tag gekommen, jetzt ist es rum. Aus, aus und vorbei", sagt Weber und atmet kräftig aus, als würde ihn allein der Gedanke daran ärgern. "Eine Stunde später bin ich dann losgelaufen – und zwar so." Weber humpelt ein paar Schritte vorwärts. "Und na ja, nach vier Wochen war das dann fast wieder weg." Im Jahr darauf kamen die Knieschmerzen zurück, zur gleichen Zeit. "Es graust mir schon vor diesem November", sagt er. Er kenne einige Läufer, die wegen Knieproblemen aufhören mussten.
Weber ist sich bewusst, dass nicht jeder Körper mit Streak-Running klarkommt. In Onlineforen lese er oft von Leuten, die nach 100 bis 200 Tagen aufgeben mussten. Grundsätzlich ist Joggen und Ausdauersport im Allgemeinen zwar sehr gesund, bei einem solchen Trainingsvolumen aber auch belastend, da der Körper kaum Zeit zur Regeneration hat. Weber hat das alles schon oft gehört, aber: "Ich kann mir keine Auszeit gönnen. Wie denn? Dann ist die Streak ja vorbei!"
Zurzeit hat Weber gleich mehrere Laufverpflichtungen. Samstagmorgens probiert er, sooft es geht an einem Park-Run teilzunehmen. Beim Park-Running treffen sich Menschen weltweit in Parks, um gemeinschaftlich fünf Kilometer zu laufen oder zu gehen. Zusätzlich zum Park-Run joggt Weber seit dem 15.06.2020 jeden Tag mindestens fünf Kilometer, seine Zeiten lädt er bei parkrun.com hoch. "Ich muss also in der Woche mindestens 40 Kilometer laufen", rechnet Weber vor und benutzt nicht zum ersten Mal das Wort "müssen" im Zusammenhang mit Laufen.
Mehr als 400 Marathons, darunter auch längere Ultraläufe, hat Weber schon absolviert. In seiner Heimat Stuttgart, wo es zu Webers Ärgernis lange nur einen Halbmarathon gab, organisierte er den ersten richtigen Marathon. Denselben Ehrgeiz wie fürs Streak-Running hat Weber beim Marathonlaufen nicht, auch aus Selbstschutz. "500 Marathons werde ich wohl noch schaffen, aber 1.000, was für viele ein Ziel ist, interessiert mich nicht. Ich weiß genau: Das gibt mein Körper nicht her." Ein Marathon sei für ihn "Schinderei", aber gleichzeitig ein guter Grund, die Welt zu bereisen. Er lief Marathons auf allen sieben Kontinenten, auf der Chinesischen Mauer, den Osterinseln, in der Sahara und 2001 sogar in der Antarktis. Die stürmische See verhinderte damals, dass die 140 Läuferinnen und Läufer mit Schlauchbooten an Land gebracht werden konnten. Daher wurde auf dem russischen Eisbrecher, der die Gruppe vom südlichsten Zipfel Argentiniens in die Antarktis gebracht hatte, 42,195 Kilometer lang hin und her gelaufen.
Je länger Weber spricht, desto weniger wundert man sich über die Länge seiner Streak, weil man von immer mehr wundersamen Taten erfährt. Und trotzdem gibt es eine Sache, für die selbst ein Dauerläufer wie Weber kein Verständnis hat: Marathonsammler, die fast jede Woche einen Marathon laufen. "Da denke ich mir: Was soll das? Was bringt das?"