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Kathrine Switzer: 19 04 67 | "Zeit Online" vom 16.06.2023

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Kathrine Switzer: 19 04 67 | "Zeit Online" vom 16.06.2023

Beitragvon Hübi » 24.06.2023, 14:30

Kathrine Switzer

19 04 67

Mittwoch, 19. April 1967: Kathrine Switzer geht beim Boston-Marathon an den Start. Eigentlich dürfen nur Männer teilnehmen. Unbemerkt vom Rennleiter läuft sie los. Was dann passiert, verändert die Sportwelt für immer.
Von Tobias Hürter

Boston am 19. April 1967, ein kalter Morgen. Startschuss! 601 Läufer machen sich im Schneetreiben auf die Strecke des berühmten Marathons. Darunter K. V. Switzer mit der Startnummer 261 am Pulli, die Kapuze übergezogen. Nach zwei Kilometern rutscht die Kapuze vom Kopf und gibt einen langen Haarschopf frei – gerade als das Auto der Rennleitung sie überholt. Der Renndirektor Jock Semple stutzt. Ein weiblicher Läufer! Das geht nicht. Semple springt ab, setzt der Nummer 261 hinterher, um sie aus dem Rennen zu nehmen. Aus seinem Rennen. "Mr. Boston Marathon" wird er genannt. Dieses Rennen ist ihm heilig. Frauen haben darin nichts zu suchen.

Kathrine Switzer hört hinter sich Ledersohlen auf Asphalt, wendet den Kopf und blickt direkt "in das wütendste Gesicht, das ich je gesehen hatte", so erinnert sie sich später. Semple ist groß und bullig. "Hau verdammt noch mal ab aus meinem Rennen und gib mir diese Startnummer!", ruft er, packt Switzer an der Schulter und greift nach ihrer Startnummer.

Doch Kathrine Switzers Freund Tom Miller, der mit ihr läuft, ist ebenfalls groß und stark, er ist Hammerwerfer und hat früher Football gespielt. Mit seinen mehr als 100 Kilogramm rammt er den Renndirektor, der nur einen von Switzers Handschuhen zu fassen kriegt und zu Boden geht. "Lauf!", ruft er Kathrine zu. Weinend vor Schreck läuft sie weiter. In vier Stunden und 20 Minuten, mit schmerzhaften Blasen an den Füßen, bringt sie ihre Startnummer ins Ziel, als erste Frau der Geschichte.

Zwar sind zuvor schon einzelne Frauen Marathon gelaufen. Aber nur heimlich. Im Jahr 1896, einen Tag nach dem Marathonrennen der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen, lief eine 35-jährige Frau und Mutter namens Stamata Revithi die Rennstrecke aus Protest gegen den Ausschluss von Frauen, bis Soldaten sie kurz vor dem Ziel im Panathinaiko-Stadion stoppten. Spätestens seit diesem Tag sollten alle Zweifel daran beseitigt sein, dass Frauen Marathon laufen können.

Frauen können so etwas nicht. Sie haben zu schwache Nerven, Knochen und Muskeln, zu breite Becken. Ihre Körper sind zum Gebären da. Sie brauchen den Schutz der Männer. Bla, bla, bla. So ungefähr ist die vorherrschende Meinung, als Kathy Switzer in Boston am Start steht. Frauen ist nicht einmal ausdrücklich verboten, Marathon zu laufen, es gilt schlicht als ausgemacht, dass sie es nicht dürfen. Bei den Olympischen Spielen laufen Frauen damals nicht weiter als 800 Meter, zwei Stadionrunden. Der Renndirektor Jock Semple setzt nur ins Werk, wovon viele überzeugt sind.

Wie auch die Reporter auf dem Pressefahrzeug, die Switzer nun Fragen zurufen: "Was wollen Sie beweisen?" – "Ist das ein Aprilscherz? – "Sind Sie eine Suffragette?" Da erst begreift sie die politische Bedeutung ihres Laufs: "Niemand wird glauben, dass eine Frau das schaffen kann, wenn ich dieses Rennen nicht ins Ziel bringe." Sie läuft nicht mehr nur für sich, sie läuft für alle Frauen.

Dieser Lauf begann für Switzer schon acht Jahre zuvor, als sie zwölf war. Sie kam in die Highschool und träumte davon, Cheerleaderin zu werden und den Jungs zu gefallen. "Cheerleader feuern andere Leute an", sagte ihr Vater darauf, "du willst, dass die anderen dich anfeuern."

Kathy nahm sich vor, jeden Tag eine Meile zu rennen – und zog es durch. Besorgte Nachbarn erkundigten sich bei ihren Eltern, ob etwas mit ihrer Tochter nicht stimme. Ihre Freundinnen warnten sie: Ihre Beine würden dick werden, ihr würden Haare auf der Brust wachsen, sie würde zum Mann mutieren oder zumindest lesbisch werden. Kathy rannte weiter.

Die Fotos werden zur Ikone dessen, wofür die Frauenbewegung kämpft
Sie las über die Mythen, die über Laufen und Frauen kursierten. Laufende Frauen würden unfruchtbar. Ihnen falle die Gebärmutter heraus, ihre Brüste leierten aus. Kathy blieb unverzagt. "Es kam mir vor, als entdeckte ich ein neues Universum", sagt sie später. Dank der Ausdauer, die sie sich antrainiert hatte, schaffte sie es ins Feldhockey-Team. Es war eine der wenigen Sportarten, die Frauen damals treiben durften. Die tägliche Meile war ihr Geheimrezept, nicht nur für den Sport. Sie gewann Mut und Selbstbewusstsein: "Wenn ich eine Meile rennen kann, schaffe ich auch andere Dinge."

Sie schrieb für die Schülerzeitung, traute sich in die Tanzgruppe. Sie rannte zwei, drei, vier Meilen. Auf der Syracuse University fragte sie den Trainer des Crosslauf-Teams der Männer, ob sie mitlaufen dürfe. Er lachte sie aus, ließ sie aber "inoffiziell" mittrainieren. Einer der Läufer, Arnold Briggs, schwärmte ihr vom Boston-Marathon vor, von diesem gewaltigen Lauffest, das alljährlich am Patriots’ Day im April stattfindet. Aber Frauen können ja keinen Marathon laufen, fügte Briggs hinzu. Können sie doch, antwortete Kathy Switzer. Glaub es oder nicht, ich werde diesen Marathon laufen. Abgemacht, sagte Arnie, ich helfe dir. Gemeinsam machten sie sich ans Marathontraining.

Sie studierten das Reglement des Boston-Marathons: kein Startverbot für Frauen. Switzer füllte das Anmeldeformular aus, ohne ihren Vornamen auszuschreiben, legte ein ärztliches Attest bei und bezahlte die zwei Dollar Startgebühr. "Ich wollte nicht betrügen, ich wollte kein Zeichen setzen, ich wollte schlicht das großartigste Rennen der Welt laufen", sagte sie später. Doch sie setzte ein Zeichen.

Eine Woche vor dem Rennen lief sie probehalber 34 Kilometer weit, acht Kilometer kürzer als Marathondistanz. Am Start versucht sie nicht, ihr Geschlecht zu verheimlichen. Sie trägt Lippenstift und Ohrringe. Den Kapuzenpulli und die lange Hose zieht sie wegen des kalten Wetters über ihre kurzes Laufdress. Die Kontrolleure am Eingang zum Startblock winken sie durch. Andere Läufer, die sie als Frau erkennen, sprechen ihr Mut zu.

Wie fast alle Menschen, die einen Marathon laufen, muss auch Kathy Switzer sich an jenem Tag, nachdem das Adrenalin verbraucht ist, durch ein mentales Tief kämpfen. Ihr Zorn auf Jock Semple legt sich: Es ist nicht sein Fehler, denkt sie sich nun. "Er ist ein Produkt dieser Zeit. Was ich hier erlebe, gehört zum Leben vieler Frauen. Ihnen wird mit zwölf verboten, auf Bäume zu klettern und Fangen zu spielen. Sie sollen zimperlich sein, eine kleine Dame werden und sich einen Mann suchen."

Am Abend des Renntags noch fahren Kathrine, ihr Freund Tom und ihr Trainingspartner Arnie den weiten Weg zurück nach Hause, so erzählt sie es 2021 in einem BBC-Interview. Bei einem Café machen sie Halt, tanken das Auto, essen Eis, trinken Kaffee, strecken die müden Beine. In der Abendzeitung, die ein Mann im Café liest, sehen sie ein Foto, das ein Reporter vom Pressefahrzeug aus geschossen hat. Es zeigt die zierliche Kathrine Switzer in ihrem Trainingsanzug, attackiert vom bulligen Jock Semple im feinen Zwirn.

Die Fotos gehen um die Welt. Sie werden zur Ikone dessen, wofür die Frauenbewegung kämpft. Ein Mann, der über die Frau bestimmen will, notfalls mit Gewalt. Die Frau, die sich nicht aufhalten lässt.

So wohlwollend deuten allerdings nicht alle Switzers Leistung. Manche Reporter, die im Ziel auf sie warten, finden ihre Zeit zu langsam. Eine Zeitung druckt die Fotos mit der Überschrift "Die Ritterlichkeit ist nicht tot" und erklärt damit statt ihrer ihren Freund Tom zum Helden des Tages. Der amerikanische Amateursportverband schließt sie aus, wegen "Laufens mit Männern" und "ohne Aufsichtsperson". Sie bekommt eimerweise Hassbriefe, die ihre Leistung für unweiblich erklären. Freundlichere Briefeschreiber vergleichen Kathy mit Jeanne d’Arc oder berichten begeistert von ihren Frauen, die, inspiriert von Switzer, mit dem Laufen begonnen hätten.

Auch heute sind Spitzenläuferinnen nicht vor Häme sicher
Dieser Lauf ist noch nicht zu Ende, versteht Kathy Switzer. Mit Tom und Arnie gründet sie einen Frauensportverein in Syracuse. Sie wirbt Sponsoren an. Sie läuft weiter und schneller. Im Jahr 1974 gewinnt sie die Frauenwertung des New York Marathons – ja, inzwischen gibt es eine Frauenwertung! Der weltweit erste Marathon, bei dem Frauen offiziell starten dürfen, findet im Jahr 1968 in Bräunlingen im Schwarzwald statt, im Verstoß gegen die Regeln des Deutschen Leichtathletik-Verbands. Sogar Jock Semple ändert seine Haltung: Auch der Boston-Marathon führt im Jahr 1972, also 76 Jahre nach seiner Gründung, eine Frauenwertung ein. In jenem Jahr starten acht Frauen. Switzer wird Dritte. Semple überreicht ihr bei der Siegerehrung die Trophäe, beeindruckt von den Leistungen der Läuferinnen. Im nächsten Jahr geht er am Start zu Switzer und heißt sie vor den Kameras mit einer Umarmung willkommen. "Das Ende einer Ära", schreibt die New York Times am nächsten Tag zum Foto der Umarmung. Wenn Jock Semple Kathrine Switzer zu seinem Marathon begrüßt, haben sich die Zeiten wirklich verändert. Switzer und Semple werden gute Freunde. Er unterstützt ihre Kampagne zur Einführung eines Frauenmarathons bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles.

Allein durch gutes Zureden lässt sich der Männerverein, der das Internationale Olympische Komitee ist, nicht von einem Frauenmarathon überzeugen. Kathy Switzer gründet eine internationale Serie von Frauenläufen, für die sie als Sponsor einen Kosmetikkonzern gewinnt: den Avon International Women’s Running Circuit. Die Serie ist ein gewaltiger Erfolg. In der ganzen Welt finden Läufe statt, mehr als eine Million Frauen nehmen teil. Im Jahr 1980 werden für einen Frauenmarathon mit Teilnehmerinnen aus 27 Nationen sogar die Straßen von London gesperrt – ein Privileg, das bis dahin der Königsfamilie vorbehalten war. Das IOC ist überzeugt.

Im Jahr 2017, 50 Jahre nach ihrer spektakulären Premiere, läuft Kathy Switzer den Boston-Marathon zum neunten Mal, gemeinsam mit mehr als 13.700 anderen Frauen – fast so viele wie Männer im Starterfeld. Sie trägt wieder die Startnummer 261, die fortan für sie reserviert bleibt.

Heute kann niemand mehr bezweifeln, dass Frauen das Zeug für Langstrecken-Sport haben. An jenem 19. April 1967 lief der Sieger des Marathons, Dave McKenzie, zwei Stunden, 15 Minuten und 45 Sekunden. Die Kenianerin Brigid Kosgei lief im Jahr 2019 den Chicago-Marathon in zwei Stunden, 14 Minuten und vier Sekunden.

Und je länger, desto besser. Statistiken zeigen, dass Frauen auf langen Distanzen in der zweiten Hälfte des Rennens weniger Tempo verlieren als Männer. Bei äußerst langen Laufwettbewerben, ungefähr ab 300 Kilometern, sind Frauen statistisch sogar einen Tick schneller als Männer. Hervorragende Langstrecken-Läuferinnen wie die Britin Jasmin Paris und die Amerikanerin Courtney Dauwalter gewinnen Rennen, bei denen sie ein Feld von männlichen Weltklasse-Läufern hinter sich lassen. Zum Beispiel gewann Jasmin Paris im Jahr 2019 das berühmte Spine Race, das mitten im Winter über den Pennine Way geht, einen 431 Kilometer langen Wanderweg längs durch England. Dabei stellte sie einen neuen Streckenrekord auf, der bis heute unübertroffen ist: 83 Stunden, zwölf Minuten und 23 Sekunden. In den Laufpausen pumpte sie sich Milch für ihre kleine Tochter ab.

Doch auch diese Spitzenläuferinnen sind nicht vor Häme sicher. Courtney Dauwalter trägt bei langen Rennen gern lange, weite Shorts, die sie bequemer findet als die speziell für Frauen geschneiderten Laufröckchen. Manche Kommentare im Internet dazu ähneln jenen, die Kathy Switzer ein halbes Jahrhundert zuvor bekam. Dauwalters Shorts sind exakt die gleichen, die auch männliche Läufer tragen – ohne dafür blöde Bemerkungen zu hören.

Warum Frauen auf langen Distanzen so stark sind, ist nicht geklärt. Manche Fachleute vermuten, dass ein höherer Östrogen-Spiegel die Muskeln schützt und den Fettstoffwechsel verbessert – Fett ist auf langen Strecken der wichtigste Treibstoff. Zudem haben Frauen im Vergleich zu Männern einen höheren Anteil an langsam zuckenden Typ-1-Muskelfasern, die zwar etwas schwächer sind als die schnell zuckenden Typ-2-Fasern, dafür aber ausdauernder. Auf kürzeren Distanzen hingegen, zum Beispiel im Sprint und im Hürdenlauf, kommt es weniger auf Energieeffizienz als auf Schnellkraft und maximale Sauerstoffaufnahme an. Auf ihnen könnte männlichen Läufern ihr Testosteron helfen, das ihnen ein größeres Herz, mehr Muskelmasse und einen besseren Glykogen-Stoffwechsel verschafft. Die Vermutung, dass Frauen eine höhere Schmerzschwelle haben, sodass sie Geburten ebenso wie Langstrecken besser durchstehen, gilt inzwischen als widerlegt.

Solche biologischen Erklärungsversuche sind aber bestenfalls Vereinfachungen. Es gibt keinen kategorischen Unterschied zwischen den Körpern männlicher Sportler und weiblicher Sportlerinnen. Gute Sprinterinnen lassen fast alle Männer stehen, gute männliche Ultraläufer fast alle Frauen.

Viele Sportlerinnen haben auch heute noch mit anderen Dingen zu kämpfen, bevor sie an ihre biologischen Limits gehen können. Auch 64 Jahre nachdem die junge Kathy Switzer mit einer täglichen Meile in ihrer Nachbarschaft Anstoß erregte, kriegen Joggerinnen noch sexistische Kommentare zu hören, wie sie Männern erspart bleiben. Noch immer müssen sie manche Gegenden und Tageszeiten meiden. Noch immer ist der Spitzensport männerdominiert: Gehälter und Sponsorengelder für Frauen sind im Vergleich zu denen für Männer viel zu niedrig. Noch immer missbrauchen Trainer ihre Machtposition gegenüber Sportlerinnen. Auch wenn die Bedingungen auf dem Papier gleich sein mögen, in der Praxis sind sie es nicht. Es ist ein weiter Weg, auf dem Kathy Switzer damals den ersten Schritt tat. 
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Meine Bestzeit 2:27:04 Std. beim 11. BERLIN-MARATHON 1984 :run: :throb:
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