Re: Hotti
von Hotti » 25.09.2023, 17:40
Das Leben danach
Der gestrige Tag ist wieder einmal einer zum Nichtvergessen. Der 49. Berliner Marathon verlief erneut mit einem Ereignis, das für unwahrscheinlich gehalten wurde. Und zwar bei den Frauen. Tigst Assefa aus Äthiopien, so konnte ich in der Zeitung lesen, schrieb Sportgeschichte indem sie den bestehenden Weltrekord von Brigid Kosgei (Kenia) mit 2:14:04 Stunden auf sage und schreibe 2:11:53 drückte, also über zwei Minuten schneller als der bisherige Wert. Eigentlich unvorstellbar, aber wahr. Nun ist Berlin erneut alleiniger Marathon-Streckenrekord-„Inhaber“, sowohl bei den Männern (Eliot/Eliud Kipchoge 2:01:09, 2022, der jetzt zum 5. Mal in Berlin gewann 2:02:42) als auch jetzt bei den Frauen, was 1999 schon einmal der Fall war. Berlin gilt ohnehin als „schnelles Pflaster“, weil es keine wesentlichen Steigungen gibt und vom Wettereinfluss oft Optimales bietet.
Alles traf zu und mit 47.912 angemeldeten Teilnehmer*innen war quasi die Stadt Neunkirchen im Saarland mit ihrer Einwohnerzahl in voller Stärke angetreten. Aber ob diese Stadt tatsächlich 156 verschiedene Staatsangehörigkeiten in ihren Reihen haben kann, die beim Berlin-Marathon vertreten waren, ist doch sehr zu bezweifeln. Jedenfalls ebenfalls ein Rekord in der Geschichte des Laufes. Mit dem Blick auf das Wetter erhellte sich bestimmt die Miene aller, die an dem Rennen teilnahmen. Es war angenehm kühl (13-15°C) und windstill. Zur Mittagszeit steigerte sich die Temperatur bis auf 22-23°C, was durchaus für alle Läuferinnen und Läufer im Bereich des Verträglichen lag.
Eine derartige Massenveranstaltung zu bewältigen, alle Eventualitäten zu berücksichtigen und vor allem die Sicherheit einer extrem großen Zuschauermenge contra Langstreckler*innen zu gewährleisten, ist eine Riesenaufgabe. Und salopp gesagt, es verlief alles im absolut grünen Bereich. Das ist schon toll. Ob aber der grüne Tiergarten den Ansturm der besagten 47, fast 48tausend unbeschadet überstanden hat, entzieht sich meiner Kenntnis, hege jedoch meine Zweifel, denn die Start-Zugangsmöglichkeiten unmittelbar an der Straße des 17.Juni glichen einem Nadelöhr. Es kam zu beträchtlichen Staus und halsbrecherischen Zaunüberquerungen durch diejenigen, die eine Startnummer auf der Brustseite trugen. Ordner, wenn welche vor Ort, waren überfordert. Und eigenartig ist es schon, dass sich innerhalb kürzester Zeit plötzlich ein kaum noch überschaubarer Menschenbandwurm im Startbereich zusammenfand und auf das Startkommando wartete. Diesmal nicht mit der Startpistole abgegeben, sondern per Roten-Knopf-drücken durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin.
Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Start um 09:15 Uhr und die Elite war in Sekunden entschwunden. Die danach folgende Masse hat nicht mehr diese Spritzigkeit, kein Wunder, es ist alles viel enger und die Gefahr über andere Beine zu stolpern, ist nicht unbegründet. So dauert es rund eine geschlagene Stunde, bis auch der/die letzte Zweibeiner*in den Startstrich passierte. Das Maulen über die lange Wartezeit wird alsbald von den Zuschauervölkern vergessen gemacht.
Berlin hat ein begeisterungs-fähiges und objektives Publikum, das mit Anfeuerungsrufen und Beifall keineswegs geizt. Und erst die Geräuschkulisse, mir dröhnen noch heute die Ohren vom Wumm, Bumm, Päng, Bäng der Trommler und die Bläser sind ja auch nicht ohne. Wenn dann in Kreuzberg eine mit 130 Dezibel ausgestattete Heavy-Metal-Band mit Blues-Rock auf Dich eindrischt, dann kannst Du dem nur entgehen, wenn der bisherige Schritt noch ein bisschen schneller kommt.
Der letzte Satz ist gut gesagt, soweit es mich selbst betrifft. Da geht nichts mehr schneller, obwohl ich anfangs in wahrer Euphorie tatsächlich einer Gruppe anhing, die ein Tempo meiner früheren Jahre anschlug und ich sehr bald erkennen musste, nein mein Lieber, so geht das nicht mehr, zumal ich meinem Kardiologen versprochen hatte: „Alles in Maßen“. Und siehe da im Kampfwandern fand ich meinen Rhythmus. Als Ziel hatte ich mir zumindest den Halben gesetzt und als ich die Potsdamer Str. erreicht hatte, erreichte mich der Ruf „da geht noch was“. Es war ein Versuch, weil auch ein Fuß/Zeh-Problem noch immer nicht behoben war. Der tatsächliche Hintergrund des Durchhaltens lag allein im verdammten Ehrgeiz, diesen, meinen 39. Berliner Marathon zu finishen, denn dem folgt im nächsten Jahr ein Doppeljubiläum: Für Berlin der 50. Und für mich der 40. Noch schlimmer: Es wird auch der 75. insgesamt für mich sein. Basta, dann ist Schluss mit der langen Strecke und Marathon ist Geschichte. Laufen, wie auch immer, werde ich wohl mein Leben lang, denn nach dem Laufen ist vor dem Laufen (meinetwegen auch als Walker) – aber keine Rennen.
Ob ich dann auch zu den begeisterten Zuschauern gehören werde, kann ich mir gut vorstellen, denn der uns zugeteilte VIRUS ist meist unheilbar (siehe Hübi und etliche andere). Jedenfalls war mein Besuch am Roseneck – Bernd-Hübner-Lauftreff samt Cola-Erfrischung fast Garant, es die 13 km anstehenden Kilometer noch zu schaffen. Danke. Zwischen Laufen und Gehen (nicht Krauchen!) kam ich den letzten Km immer näher. Und die taten dann richtig weh. Nicht da, wo es hätte sein können, genau entgegengesetzt, am Fuß. Der Zeh, die Fußsohle und zum Überfluss ein blaugefärbter Zehnagel für die Dauer von 10 Monaten. Warum tut der Mann sich so etwas an? Dem muss nicht zu helfen sein. Stimmt, weil es auch meine Töchter sagen.
Fazit: Der Lauf ist gelaufen und für alle, die angekommen sind, gilt meine Gratulation. Inzwischen ist auch die ursprünglich von den Amerikanern ausgegangene Freundlichkeit, als Erstes nach einem Wettbewerb nicht mehr nach der Zeit zu fragen, sondern nur finisher? Wenn ja, „You are the greatest“. Für alle, die dabei waren! Denn in der Tat, das Leben geht weiter mit und ohne Lob, mit ist einfach schöner!
Weltrekorde obendrauf.
Horst