Rapunzel
Lang ist es her, dass wir die Märchenbände der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm vorgelesen bekamen, später selbst gelesen und in der folgenden Generation den eigenen Kindern nicht nur als Gute-Nacht-Geschichte, sondern meist sogar mit ausschmückenden Worten erzählt haben. Ja, ja, die Grimms waren wahre General-Genies, womit die sich schon in ihrer Zeit beschäftigt hatten! Sie sind keineswegs nur Märchen-Onkel, vielmehr Sprachwissenschaftler und -forscher, also Philologen erster Güte von denen wir bis heute profitieren. Jedenfalls ist mit der Geschichte von Rapunzel (und wer kennt sie nicht?), sofern irgendwo ein verlassener Turm in der Gegend herumsteht, beim näheren Betrachten, sofort der Name parat ist. Es könnte ja sein, dass auch heute noch die Märchensehnsucht durch praktischen Versuch erfüllt werden könnte. Also, probieren in der Möglichkeitsform: Nach Zuruf müsste das süße Mädel mit dem bis ins Unendliche gewachsenen langen, blonden Zopf, denselben herunterwerfen, um sie besuchen zu können. Wahrscheinlich eher nicht, denn wir sind schließlich weder Zauberin noch der erlösende Prinz. Uns bleibt letztlich nur die profanste aller Lösungen: Touristen, Obrigkeitseinsatz. Und wir unromantischen, der Zukunft zugewandten Realos denken automatisch an Steigleitern, Räumung der Notunterkunft, Sozialhilfe, Obdachlosenfürsorge. Nichts da, von wegen Partnership. Rapunzel hätte keine Freu(n)de mehr.
Als Touris (die Obrigkeit ist Streichergebnis) waren wir heute allerdings nicht unterwegs, ganz im Gegenteil. Nicht auf der faulen Haut, nicht bei schönem Wetter und selbst der Müßiggang fiel aus. Ein Versprechen stand heran. Eben, Rapunzel. Donnerstag, entweder Kladow oder Zehlendorf/Wannsee, neuerdings auch exklusiv herausgesuchte, nicht sehr oft besuchte und auf jeden Fall hoch interessante, bestimmt jedoch überraschende Zielbereiche, die gut ins Läufer*innen-Repertoire passen. Treffpunkt Chalet Suisse nahe Clayallee, Verlängerung der Dahlemer Königin-Luise-Str., direkt im Wald. Von hier an auf einer Route, die in meiner Version bestimmt noch nie gelaufen worden ist.
Erst einmal richtig rein in den Wald. Natürlich nicht auf den wirtschaftlich wichtigen Hundewegen (ganze Scharen von Betreuer*innen mit dem zahlreich gemischten Vierbeinervolk sind zu beachten), sondern querwaldein auf schmalen Pfaden, laufgeeignet. Zuerst ein Regenbecken, vornehm ausgedrückt, dann der Pücklerteich. Beide sind vor einigen Jahren fast topographisch einwandfrei renaturisiert worden. Und siehe da, die Straßenentwässerung aus der umliegenden Örtlichkeit sorgt mit Vorfilter für klares Wasser, um eine Stinksuhle zu vermeiden. Nun Kultur, gleich nebenan am Teich mit der Galerie (Rosen) Atelierhaus Berlin und der Bernhard Heiliger-Stiftung im Käuzchensteig. Um die Ecke das für mich intimste, angenehm gelegene Brücke-Museum der modernen Malerei im Bussardsteig. Wir sind in Dahlem am Rand des Grunewalds. Nicht mehr lange, denn es geht weiter über den Luchsweg in Richtung Eichhörnchenweg, da wo die Haute Volée Berlins im Tennisclub Blau-Weiß ihrem sportlichen Vergnügen auf herrlichem Areal nachgeht. Schnuppern wäre gut gewesen, doch wir suchen Rapunzel.
Oberhalb des Grunewald-Hundebades gelangen wir zum Hüttenweg und laufen durch das Natuschutzgebiet „Langes Luch“, das die Seen-Kette Krumme Lanke, Riemeisterfenn und Grunewaldsee kanalartig verbindet. Am ehemaligen idyllischen mit Reetdach gedeckten Wasserwerkgebäude oberhalb der Lanke, von dem übrigens nach „heißem Abriss“ nur noch eine vor sich hindämmernde Ruine übrigblieb, ging es langsam zurück zum Ausgangspunkt. Noch nicht ganz, erst noch vorbei an den ehemaligen Terrassen eines vor Unzeiten aufgegebenen Ausflugslokals (heute nur noch Pferdesportverein für Betuchte) kurz vor der Onkel-Tom-Str. Schade, noch liegt kein Schnee (ob er wohl noch kommen mag?), denn die 500 m lange Rodelbahn abseits, hätte eine willkommene Bereicherung des Laufens gewesen sein können, vorausgenommen, die „Eisente“ oder der zusammengekoppelte „Zweier“ wären mittransportiert worden. Erst noch einmal um ein ehemaliges Munitionsdepot (heute Schafweide und Naturschutz) herum, dann - jetzt kommt`s - eine kurze Querung des Hüttenwegs, nur noch zweihundert Meter, einen Knick nach rechts (immer noch nichts zu sehen), noch einmal rechts, und?
Da steht er. Von 20 m hohen Bäumen eingerahmt, gut getarnt, darum oft übersehen, der „Rapunzel-Turm“. Gut 17/18 m hoch mit überstehendem Dach, kleinen Luken, ansonsten schutzumzäunt. Was konnte das gewesen sein? Aussichtsturm, obwohl im Internet vermerkt, aber denkste. Früher diente er einmal mit vier weiteren Türmen als Vermessungsturm zum Festlegen von Koordinaten. Heute hat das Bauwerk längst ausgedient, die anderen vier fielen der Spitzhacke zum Opfer und am hiesigen nagt der Zahn der Zeit.
Allein, Rapunzel, wo mag sie stecken? Party? Geht ja alles nicht mehr. Handy? Kein Anschluss unter der Nummer 0180 6232700, und wenn, dann auch noch recht teuer, also Vorsicht (nicht versuchen), Touristenfalle!
Nur knappe 11 km kamen zusammen. Trotz vieler Pausen, dennoch kurzweilig. Zum Schluss wurde uns kalt, keine Muße mehr für den Kaffee unter freiem Himmel.
Mein nächster Vorschlag lautet: Hahneberg. Wer mitläuft, bitte vorbereiten (nur als Vorwarnung). Rapunzel mussten nur sechs ertragen. Der 7. war entschuldigt. Hätten mehr sein können. Geboostert? Die meisten ja, die anderen, wenigstens zweimal, oder wat?
Horst