Umgekehrt ist nicht verkehrt
Das habe ich mir gesagt, als ich nach einer formidablen Laufstrecke suchte, weil ja in unseren Breiten- und Längengraden, zumindest was den Umkreis von 20 km betrifft, schon einiges bekannt, oft abgelaufen und gar nicht mehr aufregend ist oder wenig neugierig macht. Langeweile? Nun ja, die gerade nicht, denn noch immer steht mit dem Durcheilen der Natur im Laufschritt etwas an erster Stelle, was wir gemeinhin als Fitness-Training ansehen. Bestimmt sind wir uns einig, wenn unsere Begeisterung, unser Interesse an der Bewegung im Einklang mit einem gewissen Erlebnis steht, das interessant ist, Freude, auch Mühe bereitet und doch Anregung verschafft. Das alles einer Gemeinschaft zu bieten, ist zugleich Anspruch und Anreiz.
Heute (was soll ich sagen? Ist ja bekannt) ist Donnerstag, allerdings der erste in diesem neuen, noch so jungen Jahr. An diesem Wochentag gehen wir fast immer fremd. Die Fremdgänger:innen (dieses Gendern treibt schon Blüten) sind meistens vom geliebten Stammstandort Mommsenstadion entfernt und auf Strecken unterwegs, die jede Ödnis oder eben Langeweile vermissen lassen. Deshalb ja auch Anspruch.
Da saß ich nun am nicht knisternden Kamin - Weihnachtsbaum steht noch bis zum kommenden Wochenende davor - und da, da kam der Einfall. Ja, das wäre doch etwas: Treff Königstraße E. Pfaueninselchaussee für alle erreichbar, selbst für unseren Westhavelländler Gert, der per Schiff bis Wannsee kam und sich dann zu mir ins Auto schwang. Kostenlos, zudem hatte er einen weiter-geltenden Fahrschein oder eine Monatskarte ÖPNV. Nur 2,5 km musste er mir verkehrsmäßig vertrauen. Der eintrudelnden Schar Marita, Kristin, Marion8, Dieter und Rainer ging es nicht anders. Auch sie mussten mir Augenmerk schenken, denn nur ich kannte (in etwa) den Kurs, weil selbst noch nie gelaufen. Aber, in meinem früheren Leben (vom 12. – 15. Lj.) muss ich wohl ein Pfadfinder, neudeutsch Boyscout, gewesen sein. Deshalb galt nur die Himmelsausrichtung als Maßstab bis wir wieder bekanntes Terrain erreichten.
Lange liefen wir „Geradeaus-Querwege“ in südwestlicher Richtung bis wir den Nikolskoer Weg überquerten und dann auf einem zum Parkgelände Glienicker Schloss gehörenden gelben Asphaltstreifen trafen, den wir umgekehrt vom Höhenlauf ab Flensburger Löwe/Schloss und in Schleife zurück kennen. Allein dieses nicht für den Verkehr zugelassene Stückchen Weg-Straße ist eine Wonne. Bergab, bergauf und Bucheckernhülsen überstreut, öffnet sich am Auslauf in sanfter Kurve der eigentliche Park Klein-Glienicke mit dem Schloss. Nun war die Grenze zu Potsdam erreicht.
Natürlich kann man ein derartiges Kleinod, wie das kleine Schloss, nicht links liegen lassen, wie es meist bei ernsthaft trainierenden Kilometerfresser:innen vorkommt. Also für uns, rein, entlang der gelb gekieselten Parkwege mit Sichtweiten über den Jungfernsee, auf die Glienicker Brücke und das vis-à-vis befindliche Schloss Babelsberg. Alles ist vom Pavillon der „Großen Neugierde“ auszusehen. Dann weiter zu den goldenen Löwen und den bizarren und doch dickstämmigen, fast liegenden Linden, die im Sommer den sprudelnden Brunnen einrahmen. Ein dickeisernes kleines Tor entlässt uns aus dem ehemals Carl von Preußen zugeschriebenen Areal.
Gleich gegenüber der Königstraße setzt sich die Parklandschaft beim Jagdschloss fort, das eines der ältesten Schlösser in der Umgebung ist. Bereits vom Großen Kurfürsten vor 300 Jahren ist die Rede. Es ist eine unendliche historische Geschichte entstanden, die hier an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann. Nur so viel: Seit 2007 ist das Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg Nutzer und gleichzeitig auch für die Unterhaltung und Pflege des herrlichen Gartens zuständig.
Klein-Glienicke, Exklave zu Berlin, aber Potsdam gehörig, hat nur 585 Einwohner. Früher fernab gelegen, heute ein erstklassiger Siedlungsbereich mit beiderseitigen Anbindungen zur Brandenburgischen wie zur Deutschen Hauptstadt. Wir nehmen den Aufstieg zur Loggia Alexandra auf den Böttcherberg und haben die vorletzte Anhöhe erreicht. Die letzten drei Kilometer fordern noch einmal eine Anstrengung, derweil wir den Schäferberg „erklimmen“, der zwar kein Gipfelkreuz, dafür aber einen 212 m hohen Fernmeldeturm (Bj. 1961-63) trägt, der noch immer für Betrieb ist und von einer Tochterfirma der Telekom geführt wird. Der Turm ist öffentlich nicht zugänglich, aber ich durfte 1969 für 3 Tage dort Gast sein und die Funksendeanlagen in Augenschein nehmen. Nach dem letzten Umbau 2017 dürfte vom damaligen Turm-Innern wohl kaum etwas übriggeblieben sein.
Ein paar hundert Meter noch und wir waren am Ausgangsort. Die 11,4 km haben wir im Zeit-Limit von 1:48:01 bei 130 Höhenmetern und ungefähr 10 Verweilpausen an besichtigungswürdigen Stätten „erledigt“.
Schlussendlich die Rubrum-Erklärung (Betreffzeile): Wir sind einige Meter auf dem Geläuf des Havelhügellaufs im umgekehrten Sinne (also rückwärts) gelaufen – hat kaum jemand gemerkt, denn das sieht ganz anders aus. Aber die anderen 10.800 m waren genau das Sahnehäubchen, dass wir in Form von Maritas vorzüglichem Eierlikör-Gugelhupf serviert bekamen. Da soll noch jemand sagen, dass es sich nicht lohnt, mitten in der Nacht um ½ 8 morgens aufzustehen, um zu laufen, dank Marita.
Horst