Re: Hotti
von Hotti » 01.07.2022, 15:25
Ein Greis, der verschwand und die Sonne mitten in der Nacht kapern wollte
Es gibt sie, die als unwahrscheinlich zu glaubenden Geschichten, die halb der Wahrheit und halb dem Wunschdenken der Träumer entsprechen. In meinem Falle ging es eher um eine Tatsache, die weniger als Utopie, besser als in der Wirklichkeit liegende Episode festgehalten werden soll. Mit einer etwas langen Vorgeschichte, für die geneigte Leser und Leserinnen hoffentlich Verständnis haben werden.
Wir schreiben das Jahr 2020. Genau in diesem Jahr wurde von mir erstmals der Versuch unternommen, in Tromsø gegen Mitternacht ein Coup zu wagen, der hell- und einleuchtend zu sein schien, nämlich den Midnight Sun-Effekt bei einem Lauf zu erhaschen, bei dem 42,195 km Zeit zugebilligt werden. Allerdings in der vorgegebenen Zeit von 330, max. 345 Minuten. Dafür gab es einige Anwärter*innen. Wer mag so etwas tun? Ich wollte unbedingt, hätte es getan, wenn ich gedurft hätte. Norwegen machte, wie andere Staaten auch, das Land zu und sperrte jegliche Veranstaltungen, so auch den außergewöhnlichen Wettbewerb, der damals um 21:30 Uhr gestartet werden und der Sieger etwa um Mitternacht den Schlussspurt hätte ansetzen können.
Ich selbst wollte nicht unbedingt Sieger sein, nur der Sonnenunter-/bzw. zeitgleich -aufgang lag mir am Herzen, gleichwohl - wie selbstverständlich - nach erfolgreichem Abschluss eines langen Laufes eine Medaille winkte, die das Novum für mich jenseits des Polarkreises gewesen wäre. Das Rennen in Tromsø fiel aus. Traum vorbei. Corona.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Versuch Nr. 2 im Vorjahr 2021. Wieder erfolgreich angemeldet, wobei Nils Haetta, der freundliche Organisator des Midnight Sun Marathons, mir anbot, das gezahlte Startgeld von 82 € aus dem Vorjahr ohne Wenn und Aber zu übernehmen. Das war ganz in meinem Sinne. Flüge buchen, Unterkunft und dgl. Eine solche Reise von gut 2.500 km Luftlinie unternimmt niemand aus lauter Jux und Dollerei. Es war ganz ernsthaft, ich will diesen verdammten Marathon endlich laufen. Mein Zweitwunsch muss zu heftig gewesen sein, Norwegen blockierte erneut, obwohl alle erforderlichen Unterlagen beisammen waren. Nicht einmal Schmuggelwege waren erlaubt und überdies gab es keinerlei Flüge zur Perle des Nordens, Tromsö.
Versuch Nr. 3 anno 2022, genau vier Monate vor meinem 82. Geburtstag, stand ich im mittleren Starterfeld auf der Grønnegata unterhalb des Rådhuset und hörte ein paar norwegische Laute, die ich nicht verstand, wohl aber den Knall nach dem beendeten Sermon. Das laufschuhbewährte Volk (etwa 1.800) setzte sich in Bewegung. Tromsø ist eine schöne Stadt, viel von Wasser umgeben und es wäre ein Jammer, den Einwohnern dieser am Sandnessundet als Ausläufer des Balsfjordes gelegenen Stadt ein solches Spektakel, wie den Marathon an dieser Stelle, zu versagen. Auch für alle Teilnehmer*innen durchaus spannend, denn die alten Holzhäuser, die Klasse-Neubauten, vor allem die übermächtige Brücke (Tromsøbrua) und schließlich das Hafenviertel mit den täglich zweimal anlegenden Hurtigruten-Dampfern (einmal hin, einmal zurück vom Eis- oder Europäischen Nordmeer) nehmen uns ganz gefangen.
Doch wie Wettkämpfer so sind, ihr Metier nehmen alle ernst. Leicht gesagt, denn gleich folgt der dickste HAMMER dieser Strecke nach genau 2 km. Eben noch im gemütlichen Schlängellauf um Hafenbuchten herum, vorbei an Kuchen-/Kaffeeterrassen und Kneipen, und dann kommt sie schon, die steil ansteigende Brücke, die zweimal überquert werden muss. Das Glück: Regnen sollte es gleich von Beginn an (20:30 Uhr). Nichts stimmte an der Vorhersage. Nur Wind, der erst angenehm, später von vorne kommend als äußerst lästig empfunden wurde. Laufen gilt für alle. Nachdem wir die City verlassen hatten, wurde es einsam. Ein langer Ausleger oberhalb der E 8 Richtung Tromsdalen mit ständigen Auf`s und Ab`s machten den Lauf anspruchsvoll. Was sonst immer irgendwie eintritt, nämlich unterwegs Kontakte zu haben, fehlte. Alle hatten mit sich selbst zu tun. Schade.
So langsam und gleichmäßig, wie ich lief, glaubte ich mich bald als durchgereicht. Allerdings ging es beim Alten Garten (Gammelgården) wieder zurück zur Brücke und da sah ich den mir folgenden, nicht enden wollenden Rattenschwanz, getragen von Teilnehmer*innen, die noch weit hinter mir lagen. Noch lief es gut bei mir (HM 2:24), das war erstaunlich, denn die Vorbereitung auf diesen endlich angegangenen Lauf war eine ganz eigene Katastrophe. Mehrere Stürze, zwei Zehenverletzungen und so gut wie keine langen Läufe standen minuspunktartig in der Trainingsphase. Alles andere als eine aussichtsreiche Teilnahme-Empfehlung, eher ein Ausschluss-Kriterium. Doch wer einmal ins Laufen kommt, wieder Blut geleckt hat, so wie ich, nein, kein Gedanke an Aufgeben. Du kannst es, sagte ich mir, zähle keine Schritte, guck nach vorne, Ankommen ist ein Sieg über dich selbst.
Inzwischen gab es viele Aussteiger*innen. Marathon bleibt Marathon, es wird einem nichts geschenkt. Und wer glaubt, die Alten bekommen irgendeinen Rabatt, ist auf dem Holzwege. Und – ehrlich – das würde ich auch vehement ablehnen. Die km wurden immer länger oder die Minuten vergingen viel schneller. Fakt ist jedenfalls, dass aus dem anfangs flüssigen Lauf ein müder Schritt wurde, bis mir Frank Galloway (ihr wisst, die amerikanische Langlauf-Rat-Ikone) ins Gedächtnis rief: „bergauf gehen, bergab laufen – alles, was drauf ist“. Das war der rettende Gedanke. Als km 40 in Reichweite war, wusste ich, jetzt kann es nur noch Felssteine regnen, die mich aufhalten.
Auf dem letzten km in der Storgata (Große Straße) war ich tatsächlich noch zu einem Lächeln fähig. Es ging seicht bergab und hier konnte ich 700 m vor dem Ziel den vermissten langen Trab noch einmal voll abrufen. 5 : 39 : 39, Platz 3 bei M 75+, denn die 80 war nur durch mich besetzt. Es war taghell, die Sonne schien zwar nicht und zum Kapern derselben konnte ich mich nicht aufraffen, aber ich durchlief frohgemut die Zieleinlaufgasse und den Zielstrich. Beides wurde wenig später abgebaut.
Der Greis, der wiederkehrte, trug ein Lächeln im Gesicht. Ganz entspannt, alles legal - ohne kapern zu müssen, denn die volle Midtsommernatt, kam zwei Tage später in vollem Glanz zu uns, noch schöner als sie Edvard Munch sie in seinem nied-nagel-neuen Museum in Oslo hätte verewigen können.
Horst
Fotos: Na, klar, kommen noch. Bin noch in der Erholungsphase von der überaus schrecklichen Heimkehrmisere mangels zuverlässiger Flugtermine (alle gecancelt ohne Ersatz, kein Service oder Hilfen…. Zum Ko……). Aber die Lofoten - einzigartig!!!