Für die "Disko Deutschland" besuchen Reporterinnen und Reporter Orte in allen Ecken der Republik – und kehren regelmäßig dorthin zurück.
Die knorrige Platane vorm Bootshaus auf der Gurlitt-Insel knirscht im Donnerstagmorgenwind, die Sonne scheint durch gelbe Wolken, zwei Blässrallen schimpfen. Wir können es noch nicht wissen, aber etwas ist anders heute im Ruder-Club Allemannia von 1866. Am Steg steht der Baron und erwartet die Ankunft seiner Kameraden vom Boston-Achter, die mit ihrem Altersschnitt von über 80 der vielleicht älteste Achter Deutschlands sind. Der Baron, 83, ist heute an Land geblieben, immer noch: die Schulter. "Ich war nur im Kraftraum, Bauchmuskeltraining", sagt er, die Augen mit der Hand abschirmend. Dafür kann er jetzt die Ankunft des wie immer grazil einschwebenden Achters rezensieren. "Schlechte Blattführung", murmelt er und ruft hinüber: "Aufrecht, Plags, aufrecht!" Plags und die anderen Männer legen an, hieven sich und ihr Zedernholzboot an Land, den Morgenruderer, schrubben ihn und tragen ihn mit ernsten Mienen hinein zu The Girl from Ipanema, Quartiersmann II, Alexander von Humboldt und den anderen Booten des Clubs. Dann verschwinden sie im Duschraum.
Eine halbe Stunde später, am Frühstückstisch. Wo sonst schon vorm ersten Kaffee Sprüche gefeuert werden, herrscht gedämpfte Stimmung. Nacheinander erscheinen Dick, Harald, Fritz-Herrmann. Einer fehlt.
"Die haben da was an der Prostata gefunden, schon wieder."
"Ich war gestern bei ihm. Scheiße, echt. Will er sofort raushaben da."
"Man muss auch mal auf die Beratung hören, was der Arzt sagt. Beim letzten Mal wollte er auch keine Reha."
"Ich hab ihn auch schon angerufen. Werden sie schon hinbekommen, oder?"
Der Boston-Achter bittet darum, den Namen des Kameraden nicht in die Zeitung zu schreiben. Eigentlich wird sonst am Frühstückstisch wenig darüber gesprochen, dass die Männer hier jeden Dienstag und Donnerstag über ihre Lebenserwartung hinausrudern. Aber wo wir dabei sind: Auch der große Uwe Seeler ist ja letztens gestorben. Das ging dem Achter schon nahe. Man kannte sich vom Golfen und von dem Schlüsselanhänger, den Fritz-Herrmann von Seeler zur Konfirmation geschenkt bekam.
"Ach, und unsere andern Jungs könnten bald im Himmel einen Achter aufmachen."
Während sich der Boston-Achter Kaffee einschenkt, wird nachgezählt, wer alles fehlt aus dem Boot, das 2000 erstmals bei der namensgebenden Regatta auf dem Charles River in Boston antrat.
"Barz lebt nicht mehr. Dann Horst ..."
"... der ist auch tot. Aber damals war nicht Horst dabei, das war sein Bruder, Jürgen. Aber der ist auch tot."
"Bernie lebt auch nicht mehr. Ecki, und Hubert."
"Haben wir eigentlich mal erzählt, wie eng unser weißer, schmaler Achter in Boston vorne war? Ich hab mir hier richtig die Beine kaputt gehauen."
Und damit schifft der Achter das Gespräch erst mal wieder in seichtere Gewässer. Aufatmen, Eierbestellung. Ob man, Herr Kellner, wohl noch einmal so ein wachsweiches Ei bekommen könne wie am Dienstag? Aber klar, die Herren. Und schon spricht man, wie auch immer das passiert ist, über die Raddampfer, die nach dem Krieg noch auf der Elbe fuhren. Die Hugo Basedow! Fritz-Herrmann erzählt, wie er dort auf dem Dampfer für Cola-Schokolade mit seiner Volkstanzgruppe für die britischen Besatzer tanzte, gah von mi, gah von mi, ick mag di nich sehn, fiderallala.
Dann kommt Christian an den Tisch, ein bulliger Typ mit Anglerhut um die 50. Er ist Trainer im Verein und so was wie die gute Fee der Allemannia, sagt man am Tisch. Außerdem ist er der Ruderkollege von Olaf Scholz, aber dazu ein andermal. "Eure Entschuldigung war echt stark, Jungs", sagt Christian. "Ist richtig gut angekommen. Macht euch bitte keinen Kopp, und macht euch bitte einen schönen Tag." Als die Fee den Tisch verlässt, erklärt sich der Achter etwas bedrückt: Am Dienstag haben sie einen Einer versenkt.
"Dem Ruderer ist nichts passiert, ein Glück, der konnte schwimmen, aber das Geschrei war groß. Sein Ehemann fuhr nebenher, der schrie auch nach dem Knall."
"Bei uns im Boot wurde aber auch geschrien, oder was, Baron?"
"Gott sei Dank war das einer aus unserm Club, das wäre sonst alles noch peinlicher. Ein Riss vom Waschbord bis runter zum Kiel."
"Uns hat einer gesteuert, dessen Frau grad gestorben ist, am nächsten Tag war die Beerdigung. Wir wollten den mal rausholen. Hätte man sich denken können, dass der nicht ganz bei der Sache sein kann. Und dann die Sonne, ja nun."
Ja nun, der Versenkte bekam eine Flasche Champagner, der Bootsbauer, der den ramponierten Einer behandelt, ein Porträt von sich mit Zauberstab, gezeichnet von Fritz-Herrmann. Dafür kann man sich schon mal versenken lassen, oder? Der Achter ist entrüstet: "Sei mal nicht so vorlaut! Erstens nur im Sommer, und zweitens ist das saugefährlich, wenn dir da einer reinbrettert."
Plags sitzt am Rand des Tisches und verfolgt die Diskussion schweigend, wie immer. Nur wenn es um Regatten und Bootsbau geht, mischt er sich ein. Plags ist 85 und rollt das R auf diese angenehme norddeutsche Weise. Er trägt einen feinen Schnurrbart und meist dicke, karierte Baumwollhemden, heute aber ein weißes Shirt von einem Ruderwettkampf 1991 in Miami, vorne ein Krokodil, hinten der Satz "See you later, Alligator". Die anderen nennen ihn "unseren internationalen Star". Er wurde Welt- und Europameister im Deutschland-Achter, nur bei Olympia in Tokio 64 mussten sie sich den Amerikanern geschlagen geben. "Unser härtester Gegner war eigentlich der sowjetische Achter aus Vilnius, aber die Amerikaner hatten auf der Bahn 1 Windschutz vom Ufer her. Ich meine, in allen Bootsklassen hat die Bahn 1 gewonnen." Später wurde Plags Trainer in Ratzeburg, all die Medaillen hängen immer noch zu Hause im Schrank.
Plags schaut auf seine zwei Uhren, es ist Zeit für heute. Er trägt immer zwei, weil er bei Online-Bestellungen so viele gratis dazugeschenkt bekommt, erzählt der Baron später, er, der Baron, habe auch schon eine abbekommen. Die Ersten verabschieden sich also, es ist wieder mal sehr viel Käse über.
Zum Abschied noch eine kleine Geschichte. Vor ein paar Jahren ruderte der Boston-Achter auf seiner Morgenrunde noch bis hoch nach Ohlsdorf. Wenn der große Friedhof auftauchte, warteten beim Wenden immer alle, bis jemand sagte: "Na, Jungs, will einer aussteigen?" Dann fuhren sie schmunzelnd zurück ins Bootshaus.