Hamburg, Ruder-Club Allemannia von 1866
In dieser Folge: Dick, Fritz-Herrmann, der Baron, Jule und Harald
Von Christoph Farkas
In unserer neuen Serie Disko Deutschland besuchen Reporterinnen und Reporter Orte in allen Ecken der Republik – und kehren regelmäßig dahin zurück.
Ein Ruderboot aus Zedernholz schwebt im blassen Morgenlicht über die Alster, wie jeden Dienstag und Donnerstag zwischen sieben und acht. Ein Haubentaucherpaar beobachtet, wie der Steuermann und seine acht Ruderer ihre letzten Schläge setzen, noch drei, noch zwei, noch einer, dann treibt der Achter an den Steg der Gurlittinsel am Ostufer von Hamburgs Außenalster. Erst jetzt, als sich die Männer in ihren rot-grauen Trainingsjacken aus dem Boot schälen, sich gegenseitig stützend, wacklig nach einer Stunde sitzen, sieht man, dass sie vielleicht doch ein bisschen alt sind.
Im Frühstücksraum des Bootshauses, eine halbe Stunde später.
"Ein bisschen alt, hahaha!", ruft Dick, 81.
"Wenn du das so schreibst, ist das Lügenpresse", droht Fritz-Herrmann, 82, und lacht in seinen Assamtee.
"Die kannst du dir sparen, deine Kommentare", sagt der Baron, 83.
Die Männer, die sich hier nach jeder Morgenrunde zum Frühstück treffen, sind nicht irgendwelche Ruderer. Hier sitzen Deutsche Meister, Weltmeister, Olympioniken. Tokio 1964! Sie sind der Boston-Achter. Das Boot, das im Jahr 2000 bei der legendären Regatta auf dem Charles River in Boston antrat. Mit einem Altersdurchschnitt von über 80 sind sie heute der älteste Achter des Hamburger Ruder-Clubs Allemannia von 1866. In anderen Clubs werden diese Boote gelegentlich "Mumien-Achter" genannt. Das habe sich bei den stolzen Allemannen noch niemand getraut, sagen die Männer. In ihrem Club rudert seit seiner Zeit als Hamburgs Bürgermeister auch der Kanzler, ("unser Olaf").
Es gibt schwarzen Kaffee und Schwarzbrot, Schinken und Spiegeleier. Heute sitzen sie drinnen zwischen Vitrinen mit angelaufenen Silberpokalen, sonst draußen auf der Terrasse über der Außenalster. Die Herren nennen sich gegenseitig "Jungs" und bestehen unter Androhung von Schnapsrunden darauf, geduzt zu werden.
Wie geht’s also?
Der Boston-Achter, das sind heute acht austrainierte, frisch geduschte Männer mit Lederslippern, Hemdkragen und Hörgeräten. Den jüngsten mit 74, Jule, nennen sie "unsern Jungspund", den Ältesten, Harald, mit 87 "unsern Paten". Die meisten rudern seit den Fünfzigerjahren, viele sind genauso lang befreundet. Sie waren Piloten, Sportlehrer, Anwälte und Reeder, einer war Vertriebschef einer Versicherung, von einem heißt es, er habe bei den Hamburger Verkehrsbetrieben Ende der Siebziger die letzten Straßenbahnen eingestellt ("Vernünftige Entscheidung, Harald!"). Alle hier waren es ihr Leben lang gewohnt, Ansagen zu machen. Jetzt sind sie seit zwei Jahrzehnten Rentner, "gut situiert", sagen sie, und das spürt man auch.
Werden irgendwo in Deutschland so ausgelassen Brote geschmiert wie hier, am Alsterufer um halb 10?
"Du hättest uns früher sehen sollen. Da wurde noch gefeiert und nicht nur über Schlüsselbein-OPs und Zahnschmerzen geredet."
"Wir haben praktisch jeden Tag trainiert, Kniebeugen gemacht mit dem Trainingspartner auf den Schultern, ich hatte den Hubert mit seinen 90 Kilo."
"Beim Clubvorstand mussten wir bei Gott dem Gerechten schwören, nicht zu rauchen, nicht zu trinken und die Mädchen zufriedenzulassen."
"... also nicht zu schnackeln. Da wurde sich auch dran gehalten, hundertprozentig."
"Nicht!"
Der Boston-Achter lacht, dass die Kaffeetassen scheppern.
Der Trainer von damals ist tot
"Es gibt heute noch das Bonmot: ›Augen im Boot! – Wo, wo, wo!‹, wenn eine schöne Frau am Ufer vorbeiläuft. Früher hat man uns auch mal nachgesehen vom Ufer, das ist heute wohl nicht mehr so."
Das heißt nicht, dass der Boston-Achter heute Wanderfahrten auf der Alster machen würde, um gemeinsam zu staunen, wie hübsch der Rhododendron blüht. Es gibt immer Programm, 300 harte Schläge in Intervallen, sauber und konzentriert, ohne Sabbeln. Augen im Boot. Niemand will ein Teebeutelruderer sein, nur eintauchen und ziehen lassen.
"Wir wollten immer noch mal nach Boston fahren. Tausende Zuschauer mit Picknickkörben am Ufer, Reporter, die deinen Namen rufen, Hunderte Achter im Hafen, die goldgelben Blätter im Oktober. Und dann abends einen Hummer."
"Mit Ketchup, bah!"
"Also das war eigentlich der Plan, noch einmal nach Boston mit Durchschnittsalter 100."
"100, du spinnst doch. 90! Aber ja, Boston. Oder wenigstens Würzburg."
Der Boston-Achter träumt noch. Das Problem ist nur: Der Trainer von damals ist tot, und der Steuermann passt nicht mehr ins Boot, weil er zu dick geworden ist. Und im schmalen Rennboot ist das Ein- und Aussteigen noch schwieriger als in der breiteren Gig, die sie auf der Alster fahren. Insgesamt, sagt der Boston-Achter, ist Altwerden nichts für Feiglinge.
Sie rudern weiter, um nicht zu verrosten und weil sie sonst zickig werden, wie eine ihrer Töchter immer sagt. Und natürlich: wegen der Kameradschaft. Sie haben sich gegenseitig sehr schöne Öfen und Fenster eingebaut und einen der Männer getröstet, als dem die Frau durchbrannte, mit einem seiner besten Freunde.
Der Baron, eins neunzig groß, ist so etwas wie der Sprecher des Boston-Achters. Er trägt einen Zweitagebart und eine Wildlederjacke, um die man sich auf Flohmärkten prügeln würde. Der Baron erteilt das Wort und ermahnt, sich doch mal bitte ausreden zu lassen. Über seine Walter-Ulbricht-Imitationen grinst er wie ein 15-Jähriger.
Baron heißt er seit seinem Studium in Leipzig, als er sich weigerte, das blaue Pionierhemd zu tragen und stattdessen in einem weißen Hemd mit einer aufgestickten Rose herumlief. 1962 floh er nach Hamburg und wurde Kapitalist, sagt er. Das Lebensmotto des Barons: Man muss sich alles schönreden. Bei schlechtem Wetter trifft man ihn manchmal allein im Bootshaus, grollend, dass ihn der Boston-Achter im Stich gelassen hat, "diese empfindlichen Idioten, diese Schönwetterruderer!". Im nächsten Moment spricht er wieder zärtlich über diese Idioten, mit denen er seit einem halben Jahrhundert im Boot sitzt. Der Baron rudert seit einer OP an der Halswirbelsäule vor ein paar Wochen auf Schmerztabletten, er leidet, aber nicht so sehr, wie er ohne den Boston-Achter leiden würde.
Es ist halb elf im Bootshaus geworden, der Kaffee leer, die Eier aufgegessen. Bevor alle losmüssen – zur Augen-OP der Frau, eine Runde hinlegen, den Springbrunnen streichen –, wird das Frühstück rezensiert. Es sei immer noch ein Skandal, dass ein gekochtes Ei jetzt einen Euro extra koste. "Aber fünf Spiegeleier kriege ich kostenlos, oder was?" Dafür müsse man doch sehr loben, dass der Schinken jetzt auf einer Servierplatte gereicht werde.
"Ja, Mensch, die sind lernfähig hier. Die haben nicht mehr diese komischen ..."
"Wo dir die Wurst immer runterstürzt von oben. Ärgerlich."
"E-tra-gere nennt man das."
"Das war eine Billig-Etragere, die die hier hatten. Wupps, rutscht da der Teller raus. Mit einer teuren wäre das nicht passiert. Die sind anders konstruiert, da sitzen die Teller oben fest drin."
"Eta-gere heißt das Ding doch, ne."
"Ach du, kann sein."
Kann sein, ach Mensch, was soll’s, das sind die Formeln des Boston-Achters. Man kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Dick, Jule, Henning, der Baron, Fritz-Herrmann, Plags, Karsten, Harald und Harald. Bis bald, Jungs!