MOSES hat geschrieben:"Doro" - war hin und wieder beim Berglauf am Freitag - lief als Einzelläuferin nach
28:21:14 h in's Ziel !
Mir wurde zugetragen, dass Moses mich hier geoutet hat
Ich bin ja nicht so „forenaktiv“, aber da mein Laufbericht schon im befreundeten Nachbarforum ist, poste ich ihn hier auch nochmal. Vielen Dank für Eure Unterstützung
Mauerweglauf 2022 - „Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen“Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wer von uns beiden zuerst auf die wirre Idee kam, die 100 Meilen vollständig zu laufen. 161,3 Kilometer entlang des ehemaligen Berliner Mauerstreifens rund um Westberlin. Der Lauf findet seit 11 Jahren (mit Pandemie-Pause in 2020) jedesmal um den 13. August, den Tag des Mauerbaus statt und ist eine Gedenkveranstaltung für die mindestens 140 Maueropfer statt. Mindestens, weil andere Angaben von weit über 200 getöteten Personen im Rahmen eines versuchten Grenzübertrittes ausgehen. Beides sind aber Zahlen, bei denen jede einzelne Ziffer ein Wert zu viel ist und die Anzahl der zu laufenden Kilometer damit irrelevant erscheint.
Bereits 4-mal hatte ich am Mauerweglauf in unterschiedlichen Staffelkonstellationen teilgenommen
2017: 60 km als Ersatzläuferin einer 4-er Staffel vom Laufteam Bernd Hübner
2018: 92 km in einer 2-er Staffel mit Mathias
2019: 70 km in einer 2-er Staffel mit Mathias
2021 sehr spontan: 34 km als Ersatzläuferin einer 4-er Staffel vom Forum-Team
Für 2022 hatte ich mir nun in einem Anfall völligen Übermutes die gesamte Distanz vorgenommen. Die Anmeldung war wie jedes Jahr am 09. November, da schien der 13. August noch sehr, sehr weit entfernt, aber spätestens ab Februar wurde ich unruhig. Ich hatte zuletzt nie mehr als 25 km die Woche trainiert und mein 415 Tage Lauf-Streak lag auch schon ein dreiviertel Jahr zurück.
Ohne einen vernünftigen Plan wäre es aussichtslos, die Strecke zu schaffen. Nicht nur das, es wäre komplett fahrlässig für Körper und Geist. Also bemühte ich „Das große Buch vom Ultramarathon“ von Hubert Beck und suchte mir ganz mutig den Plan „160 Kilometer in 24 Stunden“ raus. 30 Stunden hätte ich Zeit und so dachte ich, wenn ich auf 24 Stunden trainieren, wäre noch genug Puffer. Den würde ich auch brauchen, zumal ich mich nur aufs Laufen konzentrierte und weder Rad- geschweige denn Schwimmeinheiten dazwischen packte. Nur Krafttraining bzw. Yoga war enthalten.
Obwohl mir der Plan irgendwie Sicherheit gab, stresste er mich doch enorm. Wochen mit 3 x 30 km am Stück, mehrere 50 km und 60 km Einheiten und viele 20-er waren im Arbeitsalltag nur schwer darstellbar. Mehrfach lief ich deswegen nachmittags mit dem Laptop auf dem Rücken 25 km vom Büro nach Hause. So war ich wenigstens an Traglasten gewöhnt und auch die Brandenburger Steppe wurde mir bei brütender Hitze immer gewohnter.
Irgendwann wurde mir bewusst, der 13. August würde kommen und vorbei gehen, ohne Rücksicht darauf, was ich an dem Tag tun würde. Dem Kalender waren meine Bedenken vollkommen egal. Der brauchte mich nicht.
So kam es dann auch. Am 12. August hole ich meine Startunterlagen ab, gehe zur Pastaparty und zum Race-Briefing. Viele bekannte Gesichter. Zuviel Trubel für mich. Es sollen 32°C werden, das ist das große Thema bei allen. Jeder weiß, dass die Temperaturen schnell das Aus bedeuten können. Stecker gezogen.
Abends packe ich noch meine sorgfältig vorbereiteten Beutel für die Drop-Bag Stationen beim Ruderclub Oberhavel (km 36), Schloss Sacrow (km 73) und Sportplatz Teltow (km 105). Insgesamt gibt es auf der Strecke 26 Verpflegungspunkte (VP) im Abstand von 5-9 km mit allem, was zur Versorgung - und auch Entsorgung - für die Laufenden benötigt wird. An den drei Drop-Bag-Stationen findet auch der Wechsel der 4-er Staffeln statt. Spätestens ab Sacrow würde ich die Nachtausrüstung mit Stirnlampe und Warnweste brauchen, denn in Teltow wird es schon nach 21 Uhr sein und damit Pflicht die Sachen anzulegen. Dazu kommt in jeden Beutel noch Eigenverpflegung in Form von Gels und Koffeindrink, sowie für alle Fälle Wechselschuhe und wärmere Sachen für die Nacht ab Teltow.
Am Samstag klingelt der Wecker um 3:30 Uhr einsam vor sich hin, denn ich bin längst wach. Oder noch. Um 4:30 Uhr muss ich los. Mathias und ich nehmen die Bahn zum Erika-Hess-Stadion, wo in diesem Jahr zum ersten Mal der Start liegt. Ich bin inzwischen ganz ruhig und froh, dass es nun endlich stattfindet. Ich muss nur noch laufen. Laufen, bis es nicht mehr geht. Vom Kopf oder von den Beinen. Oder von beidem.
Im Startbereich treffen wir Thorsten. Wir wollen am Anfang zusammen laufen. 8-er Schnitt zzgl. VP-Pausen bis Sacrow ist geplant. Nach meiner Rechnung kann ich dann immer noch auf 10 bis 11 Minuten/km zurückfallen, um im Cut-Off von maximal 30 Stunden das Ziel zu erreichen. Mark gesellt sich noch zu uns. Mir ist jetzt schon alles zu laut und zu viel und ich halte mich im Hintergrund. Langsam gehen alle zum Start, nur Thorsten ist verschwunden. Wahrscheinlich beim Dixie. Uns dauert das zu lange und wir beschließen, auch hochzugehen. Mathias hebt Thorstens zurückgelassenen Rucksack an: „Was hat der denn vor? Will der umziehen?“ Bis jetzt wissen wir nicht, was er da alles drin hatte, ich fand ihn jedenfalls mega schwer.
Der Start ist sehr unspektakulär. Es ist Samstag, 6 Uhr morgens. Die meisten von uns werden in die nächste Nacht reinlaufen, da kommt es auf Geschwindigkeit nicht an. So trotten wir nach dem Startsignal über die Linie. Ich habe einfach schon mal beim Signal die Uhr gestartet, obwohl die Zeitmessmatte noch 30 m weg ist. Egal, 3 Minuten mehr oder weniger.
Die ersten 30 Kilometer verlaufen ohne nennenswerte Ereignisse, außer dass wir immer noch darüber rätseln, was Thorsten in seinem Rucksack mit sich rumträgt. Zwischendurch verliert er seine Sonnenbrille, die ich ihm hinterhertrage und Mathias meint “Jetzt beginnt er schon Ballast abzuwerfen, wie so ein sinkender Heißluftballon.“
Ab Kilometer 20 überholen uns die ersten StaffelläuferInnen, die zeitversetzt gestartet sind. 2-er Staffel um 7:00 Uhr, 4-er Staffel um 7:30 Uhr und 10+ Staffel um 8:00 Uhr. In der 10+ Staffel dürfen bis zu 26 LäuferInnen starten, das gibt Nicht-Langdistanzlern die Möglichkeit an diesem Lauf teilzunehmen, der ja in erster Linie eine Gedenkveranstaltung und nur in zweiter Linie ein Wettkampf ist. Kurz vorm Ruderclub Oberhavel flitzt Franzi, die Startläuferin der Forum-Team 4-er Staffel an mir vorbei, in einer Geschwindigkeit, die ich nicht mal mehr über 10 Kilometer halten könnte. Ein kurzer Gruß und die Verabredung, uns gleich bei Wechselpunkt wieder zu treffen.
So langsam merke ich, wie sich die alten Blasen an den Fußballen bemerkbar machen. Das ist eindeutig zu früh. So muss ich am Ruderclub unter Franzis kritischen Blicken schon mal die erste Verarztung des Laufes vornehmen. Die Pflaster kleben nicht richtig und ich hoffe, dass ich sie mit den Socken vernünftig fixiert bekomme, ohne noch größeren Schaden anzurichten. Mit etwas Verspätung verlasse ich den VP, die drei Jungs sind schon ohne mich abgezogen und ich kann mich auf mein Tempo konzentrieren. Zum Glück ist es bewölkt, denn wenn bei der Hitze noch die Sonne brennen würde, hätte ich jetzt schon raus gemusst.
Bei Kilometer 41 stehen Susan, Achim und Jonathan zum Anfeuern. Sie waren bereits morgens ihren Staffelpart gelaufen und haben sich dann auf den Weg gemacht, andere Laufende zu motivieren. Wenn man bedenkt, dass Susan auch noch in der Orga tätig ist und ein straffes Programm auch am nächsten Tag hat, finde ich das absolut beachtenswert und freue mich besonders, sie zu sehen. Überhaupt haben alle Helfenden eine mindestens ebenso anstrengende Zeit, wie die LäuferInnen.
Hier treffe ich auch Mathias wieder, der mit Thorsten und Mark vorgelaufen war, während ich meine Blasen am Ruderclub verarztete. Wir platzen mitten in die offizielle Gedenkveranstaltung zum 13. August. Überall bewaffnete Personenschützer, dazwischen der Ministerpräsident von Brandenburg und andere wichtige Menschen. Ich erkenne natürlich niemanden und lasse mich später aufklären, wer das alles war.
Wir verlassen den VP relativ schnell.
Ab diesem Punkt laufen Mathias und ich zusammen. Unausgesprochen, aber einig. Zwanzig Jahre (Lauf-)Freundschaft. Noch 120 Kilometer. Fast drei Marathon.
Bis Sacrow sind wir jetzt im 9-er Schnitt unterwegs. Schon mal Kräfte sparen. Außerdem stellen sich erste Ermüdungserscheinungen ein und wir gehen jeden einzelnen Körperteil, innen wie außen, einmal ausgiebig durch. Anatomieunterricht für LäuferInnen.
Nach einer kleinen Portion Nudeln mit Kartoffeln beim „Gourmet-VP“ Pagel & Friends (jeder VP hat gewissermaßen eigene Betreiber und einige haben bereits Legendenstatus) kommen wir gegen 17:30 Uhr in Sacrow an. Für fast 74 km fühle ich mich hervorragend. Das nächste große Ziel ist in Teltow bei Kilometer 105. Das wäre dann schon mein längster Lauf bisher.
Auf dem Königsweg kommt uns Katja mit dem Rad entgegen. Es ist inzwischen dunkel und wir treffen uns im Schein der Stirnlampen. Katja bringt neben Motivation diverse Hilfsmittel, die wir für hier nicht näher definierte Blessuren benötigen. Wir haben ja schon viel dabei, aber eben nicht alles, was man so braucht, um wunde und versehrte Körperteile zu verarzten. Vor der Reparatur des Körpers halten wir noch am VP bei Kilometer 99 und ich breche in Entzücken aus, als mir dort Pfefferminztee aus eigener Ernte serviert wird. Ich war selten glücklicher und bin wieder voll motiviert.
In der Sporthalle Teltow finden wir Mark erschöpft auf einer dicken Turnmatte liegend. Er lässt sich die Waden massieren und sieht nach gut der Hälfte der Strecke schon ziemlich mitgenommen aus. Wahrscheinlich hat er sich übernommen, nachdem ihm Mathias in Spandau deutlich gemacht hatte, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für „kluge Ratschläge“ wäre und er dann abgepest war. Jetzt bekommt er gleich den nächsten Einlauf, dieses Mal von mir. „Tut mir leid, dass ich hier liege wie ein Mädchen.“ Meine Antwort: „Nein Mark, du bist nicht wie ein Mädchen. Ich bin ein Mädchen und liege da nicht und jammere.“ Zack. Sitzt. Tut mir schon schnell leid und ich biete ihm beim Verlassen des VP an, doch mit uns weiter zu laufen. Er lehnt ab. Warum nur… Mathias und ich sind uns sicher, dass er nicht weiterlaufen wird, werden aber 14 Sunden später eines Besseren belehrt. Respekt, dass er sich wieder aufraffen konnte und innerhalb des Cut-Off ins Ziel kommt.
Zwischendurch hat es tatsächlich immer mal wieder heftig geregnet. Auch das war, wie die Bewölkung nicht vorhergesagt. Ich entscheide mich trotzdem gegen die Wechselklamotten. Es würde sich auch in der Nacht nicht richtig abkühlen.
Teltow verlassen wir mit zwei Freundinnen von Mathias. Überhaupt ist es so wie immer, Mathias kennt jeden und jede mit Namen, Biografie und Blutgruppe. Ich hingegen erkenne nicht mal Menschen, die ich kurz vorher noch getroffen habe. Ich genieße es, möglichst unauffällig zu bleiben und die Sozialkontakte Mathias zu überlassen. Perfekte Arbeitsteilung. Außerdem habe ich noch mindestens eine „Verabredung“ auf der Strecke. Bis dahin möchte ich auf jeden Fall kommen.
Bei Kilometer 118 wartet nämlich Jorka auf mich am VP. Das ist eine gute Motivation, bis hierher zu kommen und ich freue mich über unseren Plausch in der Nacht. Es ist mittlerweile 2:00 Uhr morgens. Die Helfenden sind unermüdlich dabei und wieder einmal bin ich erstaunt, mit welcher Energie und Freundlichkeit die durchhalten.
Ich sammele mir mehrere Steine aus den Schuhen und wundere mich, dass ich ohne Probleme aus dem Sitzen wieder hochkomme. Neben mir auf der Pritsche liegt der Däne, der sich 300 m vorher am Baum übergeben musste. Auch das gehört dazu. Ich bin sehr froh, dass mein Ernährungsplan immer noch aufgeht. Zwar werde ich in den nächsten Monaten keine Gels mehr anrühren können und verschenke später im Ziel die Reste an die Forum-Team-Staffel, aber insgesamt vertrage ich das Essen gut. Gelegentlich ein paar Salzstangen, Reiswaffeln, wenig Obst, etwas Nudeln und Kartoffeln. Das funktioniert.
Allerdings hätte ich mir bei Säubern der Schuhe mehr Mühe geben sollen. Diese Nachlässigkeit wird sich ein paar Kilometer weiter noch rächen. Ich bekomme die Blase des Grauens an der Ferse und denke leichtsinnig “Ach, ist ja nur noch ein Marathon. Wird schon gehen.“ Ja, geht. Tut aber höllenweh und wird auch noch lange nachwirken. Wie doof darf man bitte sein?
Schon ein VP später bei Kilometer 125 die nächste Überraschung. Ich werde von einer Helferin angesprochen: „Bist du Dorothee?“ Ja, das kann ich noch bei vollem Bewusstsein bestätigen, allerdings gibt es in der „Mauerwegszene“ noch eine andere Dorothee, also weiß ich nicht, ob ich wirklich gemeint bin. „Ich soll dir von Julia sagen, dass diese veganen Brote extra auf dich warten.“ Was für eine Freude. So habe ich morgens um 3:30 Uhr ein exklusives Frühstück. Schade, dass Julia nicht mehr dort sein konnte, aber ich habe es mir trotzdem schmecken lassen und die restlichen Brote anschließend für nachkommende LäuferInnen „freigegeben“.
(Winziger Kritikpunkt an die Orga: Veganer Aufstrich ist super, aber dass es unbedingt mit Paprika sein muss, ist für die Verdauung während so extremer Belastungen doch etwas schwierig. Vielleicht das nächste Mal etwas weniger scharf.)
Ab hier zieht es sich sehr unangenehm durch die Nacht. Ein Single-Trail am Stadtrand, der bei Tag sehr nett sein kann, ist im Lichtkegel der Stirnlampe scheinbar unendlich. Gefühlt laufen wir eine Stunde lang stumm hintereinander her. Einige Meter hinter uns ist eine Einzelläuferin, die sich an uns zu orientieren scheint. Ich habe Sorge, dass wir sie auf den falschen Weg schicken, zumal die Strecke hier nur noch mit Bändern im Gestrüpp markiert ist.
Mir brennen die Oberschenkel, die Füße tun weh und die Blase an der Ferse wird immer aufdringlicher. Mathias ist todmüde und muss sich ab Buckow immer mal wieder einige Sekunden am Zaun in der Eigenheimsiedlung, durch die wir jetzt laufen, ausruhen. Wir sind jetzt 22 Stunden auf den Beinen und ich hätte nichts dagegen, einfach ins Ziel gebeamt zu werden. Noch 35 Kilometer.
Ab Kilometer 137 geht es 6 km schnurgerade zwischen Kanal und Autobahn entlang. Spätestens an diesem Abschnitt stelle ich mir regelmäßig die Sinnfrage. Wenigstens geht jetzt die Sonne auf und man erkennt auch wieder die ersten Läufer vor und hinter sich. Bekannte Gesichter. Für Mathias. Nicht für mich. Aber immerhin hält ihn das jetzt wach, so dass wird laufend und gehend im Wechsel um 7:00 Uhr morgens Kreuzberg erreichen. Das Partyvolk ist schon weg, wir können weitgehend ungestört Richtung Mitte laufen.
Schon seit einiger Zeit nehme ich bei jedem VP das Dixie-Klo in Anspruch. Das beweist immerhin, dass ich mehr trinke als schwitze. Auch an der East Side Gallery frage ich nach dem Dixie, was auf den ersten Blick nicht zu sehen ist. Die gut gelaunte Helfer-Crew weist hinter den Stand und da steht es. Blitzesauber und voll ausgestattet. Es ist erstaunlich, wie sauber diese Mobiltoiletten alle sind. Die soziale Kontrolle unter der Läuferschar scheint zu funktionieren und wo „externe Nutzer“ wie auf der Kreuzberger Partymeile drohen, sorgen die Helfenden dafür, dass nur Befugte die Toiletten benutzen.
Ab jetzt geht es nur noch 10 Kilometer ins Ziel. Mit Abstand die längsten 10 Kilometer meiner Laufkarriere.
Bereits seit der Oberbaumbrücke begegnen wir immer wieder einem Ultraläufer mit Radbegleitung. Überholen ihn und werden wieder überholt. Bei diesen Strecken findet jeder irgendwann seinen eigenen Rhythmus aus laufen und gehen. Bernd, so steht es auf der Startnummer, ist unermüdlich unterwegs, seine Radbegleiterin hat eine Sprühflasche mit Wasser dabei, mit der sie uns immer mal wieder besprüht, was sehr erfrischend ist, da jetzt deutlich die bereits für den Vortag angekündigte Hitze aufsteigt. Ich bewundere die ausgeklügelte Logistik und sie meint, sie würde das ja schon einige Jahre machen. „Wiederholungstäter“ gibt es hier viele. Bernd kommt ca. 5 Minuten nach uns ins Ziel und wir jubeln ihm ausgiebig zu. Als ich später erfahre, dass er bereits 79 Jahre ist, bin ich sprachlos. Respekt!
An der Britischen Botschaft beklatschen uns die wachhabenden Polizisten. Die haben hier die Nacht über schon einiges gesehen. Mathias ruft plötzlich „Da kommt meine Frau!“ Und richtig, uns kommt Katja entgegengelaufen. Nachdem sie sich tagelang im Voraus und die ganze Nacht Sorgen um uns gemacht hatte, möchte sie sich nun von unserem ordnungsgemäßen Zustand überzeugen. Wir können mit allen Körperteilen und halbwegs klaren Worten glänzen. Mehr ist jetzt nicht möglich. Dafür bekomme ich zum zweiten Mal bei diesem Lauf extra für mich geschmierte Brote gereicht, die ich auch zum Foto vorm Brandenburger Tor genüsslich verzehre. Jetzt hat mein Magen bewiesen, dass er das schafft.
Katja begleitet uns die restlichen 3 Kilometer ins Ziel. Wir gehen nur noch. Für ein paar Hundert Meter begleitet uns auch noch Christian auf dem Rad, der auf dem Weg ins Stadion ist. 1,5 Kilometer vorm Ziel rutsche ich auf dem Kopfsteinpflaster etwas mit dem linken Fuß ab. Knack. Die Blase an der Ferse ist geplatzt. Wenigstens ist jetzt der Druck raus, gleichzeitig ist mir aber klar, dass der ganze Dreck im Socken jetzt freie Fahrt in die Wunde hat.
Je näher wir dem Ziel kommen, desto mehr hört man den Trubel dort. In einer halben Stunde beginnt die Siegerehrung der Staffeln und es sind viele Menschen dort versammelt. Als wir um die Ecke biegen und aufs Stadion zulaufen, stehen wieder Personen, die auf uns warten. Ich sage noch „Das ist für dich.“ zu Mathias, als mein Name gerufen wird. Nein, das ist für uns beide. Grit für mich und Mathias‘ Kollegin Christiane. Jetzt sind es nur noch 300 Meter und obwohl wir eigentlich ins Stadion gehen wollte, trägt die Stimmung und der Jubel doch soweit, dass wir den ganzen Weg wieder rennen können.
Der Stadionsprecher hält mir sein Mikro vor‘s Gesicht. „Was sind deine Emotionen jetzt nach deinem ersten Einzel-Mauerweglauf?“ Ich höre mich von außen reden, schon wieder 3/4 dissoziiert. „Ich habe keine Emotionen.“ Der Sprecher wendet sich reichlich verwirrt Mathias zu. Emotionen im semantischen Sinne fallen mir nicht ein. Im Nachhinein empfinde ich aber ein tiefes Gefühl von Demut. Demut gegenüber meinem Körper. Demut gegenüber, denen, die mich unterstützt und an mich geglaubt haben. Und vor allem Demut gegenüber denjenigen, die ihr Leben lassen mussten, nur weil sie in Freiheit leben wollten. Ich bin absolut privilegiert in Westdeutschland aufgewachsen. Zwar im sogenannten Zonenrandgebiet, aber es gab drei Himmelsrichtungen, in die ich mich komplett frei und ohne Angst bewegen konnte. Bei uns galt der Spruch „Eher kommt die Wiedervereinigung“, wenn etwas völlig ausgeschlossen schien. Und das hätte ich auch gedacht, wenn mir mal jemand gesagt hätte, ich würde eines Tages 100 Meilen laufen.
Einzelne Menschen um mich herum nehme ich nicht mehr wahr. Alles verschwimmt zu einer freundlichen Masse und ich hoffe im Nachhinein, niemanden mit meiner Abwesenheit verletzt zu haben. Ein paar Minuten sitze ich noch bei der Forum-Team Staffel und einigen Parkrunnern. Im Stadion gibt es keinen Schatten, man kann nirgends duschen und die Siegerehrung der Staffeln hat begonnen. Ich bin leer.
Katja rettet mich mit der Ankündigung, dass sie uns mit einen Car-Sharing heim fahren würde. Wir müssen nicht die U-Bahn nehmen. Ich bin ihr - wieder mal - sehr dankbar und schluppe mit meinen 4 Wechsel-Beuteln beladen zum Stadionausgang.
Epilog:
Ist es verdient, dass mir nichts wirklich weh tut nach diesem Lauf? Hat das Training gereicht? War ich vernünftig genug, mich nicht zu überlasten? Oder habe ich einfach Glück gehabt? Alles ein bisschen.
Ich habe noch zwei Tage Urlaub und gehe es ruhig an. Bereits am Montag kann ich einen Sprint durch wolkenbruchartigen Regen hinlegen. In Flipflops. Das ist das einzige größere Problem. Die Blase an der Ferse hat sich entzündet und ich musste sie dick verbinden. Geschlossene Schuhe schmerzen deswegen. Und dann ist da noch der Zeckenbiss, den ich einige Tage beobachten muss. Mehr nicht. Ich bin äußerst zufrieden, enthalte mich aber mit Plänen für die nächsten Läufe…